The Blög is böck!

Irgendwie muss ich irgendwo im Web-Interface irgendwann in den entrückten Vor-Pandemie-Zeiten irgendeinen falschen Knopf gedrückt haben. Und Zack! Schon war der Grög!-Blög mit allen (weit überwiegend) glücklichen Kulturerinnerungen ins digitale Nirwana verpufft. Tragisch. Aber wie lautet die allererste IT-Weisheit: Kein Backup – kein (Selbst-) Mitleid!

Also habe ich den Verlust still ertragen. Bis ich – dem „Ihre-PHP-Version-ist-veraltet-Gequengel“ meines Providers sei dank – wieder in Kontakt mit meiner fabulösen IT-Administröse Jeannette Kummer (erdgeschoss.net) geriet. Die hat mir mit der Web-Präsenz der Physik des Scheitern ein virtuelles Bollwerk geschaffen, das meinen sämtlichen Fehlbedienungen nun schon ein gefühltes Jahrzehnt lang standgehalten hat. (Außerdem legt ihre Installation automatisch selbst Backups an…)

Als ich Jeanne dann vom Blög-Exitus klagte, erschnüffelte sie promt im Labyrinth der All-inclusive-SQL-Datenbanken meines Providervertrags so etwas wie die zermahlenen Splitter meiner Blög-Einträge. Also zettelte sie eine Seance (Foto) mit ihrem offenbar IT-spirituell hochbegabten Medium Paolo (https://paolocoppo.com/) an – und wenig später meldete sich der Grög!-Blög mit der automatischen Warn-Email, er sei wohl gerade gehackt worden aus dem Jenseits zurück. Mir erscheint das alles in etwa so wie die Leistung, aus einer Tüte Semmelbrösel wieder ein resches Brötchen zusammenzupuzzeln.

Jetzt bin ich natürlich in der Pflicht, auch wieder frischen Belag aufs Brötchen zu schmieren. Ich habe diesbezüglich die besten Vorsätze (auch bezüglich der Backups).

Ganz vielen Dank an Jeannette und Paolo und: The Blög ist böck!

Dschungelcamp im Wiener Wald

Christian Stückl inszeniert am Münchner Volkstheater Ödön von Horváth fürs Privatfernsehen.

7, 5 Millionen Zuschauer zum Auftakt der 9. Staffel von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ können nicht irren? Das mag sich Christian Stückl gefragt haben, als er am Münchner Volkstheater die Inszenierung der jahrzehntelang in der gymnasialen Oberstufe verschlissenen „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in die Hand nahm. Denn was es als Resultat auf der Bühne des Münchner Volkstheaters zu sehen gibt, setzt mit kompromissloser Konsequenz auf alle Elemente des Dschungelcamp-Erfolgsformats.

Ins Camp eingezogen sind die hinreichend bekannten C-Promis aus der Deutschstunde: Marianne (Lenja Schultze), bildungsferne Tochter aus dem Ein-Euro-Shop des Zauberkönigs (Jean-Luc Bubert), die im Kurz-Vorkriegsösterreich vor ihrer Verheiratung mit Oskar (Pascal Fligg), Metzger aus Leidenschaft, im letzten Augenblick in die Arme und Lenden des metrosexuellen Alfred (Max Wagner) flüchtet und ihre diesbezügliche Entschlossenheit mittels unehelichem Nachwuchs Leopold (nur akustisch wahrnehmbar) unterstreicht.

Für die pseudo-archaische Naturkulisse sorgt im Volkstheater die bühnenfüllende Waldidyll-Fototapete mitsamt vorgelagertem Teichfolien-Feuchtbiotop, in dem sukzessive das gesamte Ensemble baden geht und aus dem zwischendurch (Ekelprüfung) auch mal getrunken wird. In durchnässter Garderobe wird beim Planschen der ein oder andere Koitus angedeutet – gelegentlich auch mal mit entblößtem Busen, aber selbstverständlich doch stets fernsehgemäß in den Grenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Totale Nacktheit geht auch schon deshalb nicht, weil im Reality-TV ja alle Figuren stets so grell kostümiert sein müssen, dass sie auch im YouTube-Video auf einem Handybildschirm noch sicher auseinander zu halten sind – eine Anforderung, der die Volkstheater-Inszenierung (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier) mit einer Kostüm-Farbpalette quer durch das Sortiment aller handelsüblichen Textmarker bravourös nachkommt.

Als retardierende Momente des exhibitionistischen Spektakels gibt es einige – auch im TV immer wieder gern zwischengeschobenen – divergent talentierten Gesangseinlagen zur Klavierbegleitung.

So ist nach spätestens 15 Minuten klar: Horváths biederes Spießeridyll, dessen Bestialität der Zuschauer in der traditionellen Darstellung erst noch selbst nach und nach enttarnen muss, ist hier vom ersten Augenblick an eine Freakshow, deren Kandidaten sich mit allen Registern aus Hysterie, Zote und schwülen Andeutungen an den Zuschauer heranzuwerfen scheinen. Dementsprechend gibt es in den Figuren kaum mehr Geheimnisse zu entdecken und auch keine charakterliche Beweglichkeit. Horváths im Bürgergewand getarnte Monster wirken folglich in etwa so erschreckend, wie die elektrischen Zombies in der Geisterbahn und sogar Nachwuchs-Nazi Erich (Johannes Meier) verliert als sich ständig selbst herumkommandierender blondierter Pfadfinder mit Schusswaffe jede Bedrohlichkeit.

Im TV ist diese Berechenbarkeit ein entscheidendes Erfolgskriterium, um nach Bierhol-Auszeit oder anderer Bedürfnis­verrichtung nicht die gedankliche Wiedereingliederung ins fortlaufende Programm zu gefährden.  Im Volkstheater aber beginnt sich das Publikum nach etwa einer Stunde deutlich hörbar zu langweilen, weil sich der Herrenwitz-Marathon irgendwann totgelaufen hat und außerdem im Unterschied zum heimischen TV hier die Gelegenheit fehlt, nebenher zu bügeln oder Geschirr zu spülen. Die nach 90 Minuten recht plötzlich hereinbrechende Pause löst deshalb spürbare Erleichterung im Saal aus.

Anschließend gewinnt die österreichische Dschungel-Soap tatsächlich doch noch einmal an Kraft. Nach einiger Slapstick-Artistik an der bayerischen Bierbank steuert die Handlung unausweichlich auf Horváths demaskierendes Finale hin: Mariannes Kind wird sterben, weil seine entmenschte Großmutter (Ilona Grandke) es mutwillig der kalten Nachtluft aussetzt – ein Detail, das leider im Volkstheater untergeht und so den Blick darauf verstellt, mit welcher Grausamkeit sich die Großmutter mit ihrem autoritären Fazit „Wo kein Segen von oben dabei ist, das endet nicht gut und soll es auch nicht!“ selbst zum Vollstrecker ihres rachsüchtigen Gottes erklärt.

Als aber im inzwischen stark vermüllten Idyll schließlich alle um den leeren Kinderwagen herumstehen, ist es nach zwei Stunden Gebrüll, Geschepper und kleineren Detonationen plötzlich totenstill auf der Bühne – die grellen, lauten Figuren wirken im Angesicht der Katastrophe vollkommen hilflos überfordert und können gerade dadurch doch noch einmal anrühren. Schlussendlich landet Marianne so doch noch in den zupackenden Armen ihres beständigen Metzgers („Meiner Liebe entkommst du nicht!“), der ihr im Moment des finalen Blackouts leidenschaftlich in den Hals beißt.

Persönliches Fazit: Stückl inszeniert konsequent nach den Regeln des „Unterschichtenfernsehens“  – und fängt sich damit zwangsläufig alle Gemüts- und Geschlechtskrankheiten dieses Genres ein. Worauf sich leicht mit einigem Geschrei über die Profanisierung der Horváthschen Hochkultur reagieren ließe.

Sobald aber der erste Zorn verflogen ist, beginnt die Entdeckung, welche neuen Eindrücke aus der Verbindung der beiden Kulturwelten entstehen:  Der Zuschauer erwischt sich irgendwann selbst in der Rolle des schadenfrohen TV-Voyeurs mit der selbstgerechten Überzeugung, dass die eitlen und unsympathischen Fatzkes auf der Bühne es auch nicht anders verdient hätten. Und wird schlussendlich von der wahrhaften Tragik der Horváthschen Vorlage umso mehr getroffen.

Die Abscheu vor den sich völlig würdelos prostituierenden Figuren weicht dabei dem Respekt an das dahinter verborgenen Ensemble, das sich schonungslos allen physischen und psychischen Qualen des menschenverachtenden Reality-TV-Formats ausliefert und es womöglich gerade durch manches darstellerische Understatement fertig bringt, den Zuschauer irgendwann sein Abitur und den dahin führenden Deutschunterricht vergessen zu lassen.

Trotz der Umsetzung in einem Belanglosigkeits-Format: Belanglos ist der Abend im Volkstheater also ganz gewiss nicht. Über gewisse Strecken ist er sogar sehr unterhaltsam. Vielleicht lohnt es sich jedoch, für die 30 Minuten vor der Pause das Strickzeug mitzubringen.

Lebensbejahendes Todesprogramm: Endlich – Lieder für alle, die noch leben

Schauspieler, Regisseur und Autor, Liedermacher, Schwabinger Schaumschläger, Performancekünstler – Christoph Theussl (oder Theußl, niemand weiß bzw. weiss das so genau) ist ein vielseitiger Schöpfer und Darsteller. Sein neues Album jedoch, dass er am 18. September im Schwabinger Vereinsheim vorstellte, hat ein ganz klar gefasstes Thema: „Endlich – Lieder für alle, die noch leben“ macht konsequent da weiter, wo Pop und Schlager sonst ebenso zuverlässig aufhören. Der anfängliche Liebesrausch und die blühende Jugend interessieren nur am Rande, in Theussls Liedern geht es um das verblühende Leben und seinen unausweichlichen Abschluss: Den Tod.

Das klingt spontan beileibe nicht nach einer beglückenden Thematik. Welche aber gerade unter den Österreichern eine lange künstlerische Tradition hat – und weil es sich dort selbst in der Todes-Heimatstadt Wien doch offensichtlich vorzüglich leben lässt, scheint die Duzfreundschaft mit Gevatter Tod womöglich doch nicht unausweichlich in Trübsal und Depression zu zwingen. Wofür der Exil-Österreicher und Charakter-Wiener Theussl mit seinem Opus dann auch einen weiteren eindrucksvollen Beweis liefert.

Denn es gibt auf der Bühne kein Jammern und Wimmer zu hören: Wer allein dem Klang von Gitarre und Theussls runder und warmer Stimme lauscht, erlebt einen bunten Reigen ausgelassener und besinnlicher Stimmungen. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und der Wiener Charme schmeichelt. Erst beim Begreifen der Texte bricht der morbide Inhalt durch: Da wird gemeuchelt, verbrannt, verschieden, vergraben und schnell, langsam oder sogar kerngesund gestorben; die Leiche im Kofferraum des Golf GTI wird immer aufs neue entdeckt und wieder vergessen. Selbst die beiden jungen Liebenden werden schon am Abend des ersten Kusses den Blick auf das unausweichliche Ableben richten. Und als Höhepunkt wird mit fröhlicher Melodie bedauert: Der schönste Tag zum Sterben, ist leider schon vorbei.

Klar geht es bei alledem auch einmal grob und zotig zur Sache, wenn etwa zwei Katzen ihr Lebensende in der Fritteuse finden. Aber das ist mehr ein Moment des Innehaltens, denn in der Summe nimmt Theussl den Tod bei aller Heiterkeit sehr ernst und spannt große Bögen, denen zu folgen alle Aufmerksamkeit erfordert. Zumal sehr viel von Theussls Botschaft gar nicht im Ausgesprochenen, sondern im Ausgelassenen zu finden ist.

Theussls Texte sind also große Kunst: Seine Sprache ist hintergründig, bildhaft und immer wieder hoch poetisch – wenn er etwa das ungeheuer stimmungsvolle Bild einer nebeligen Wiener Todesnacht zeichnet. Dennoch wirkt jeder Satz ungekünstelt und präzise – selbst wenn Theussl größtenteils im heimischen Dialekt singt. Aber auch die Liedbegleitungen auf der Gitarre sind weit mehr als schmucklose Akkordgerüste – sie tragen alle Stimmungen mit und geben mit kurzen Zwischenspielen auch immer wieder einmal Gelegenheit zu Einhalt und Atemholen.

Christoph Theussls morbid-satirisches Liedgut wird in der Laudatio zum Förderpreis der Liederbestenliste mit dem Georg Kreislers oder  Ludwig Hirschs verglichen. Theussl selbst meint dazu, das störe ihn nicht. Und es gibt tatsächlich objektiv auch wenig Gründe, dagegen zu protestieren.

Während also im Vereinsheim Theussls Tonjuwelen nacheinander funkeln, entwickelt die Todesthematik nach und nach beinahe etwas Beruhigendes: Statt aller verunsichernden Ungewissheit des Lebens kündet Theussl von der Sicherheit des der  ganz gewissen Ablebens: „Wia weadn olle steabm“, trällert er in munterer Tonart eines Sommerlieds – und lässt damit alle alltäglichen Sorgen des Hörers ganz klein und nebensächlich werden. Sogar wer mit eigenen Todesnöten ringt, wird in den sinnlosen Versuchen des Aufbegehrens, etwa in der Moritat vom ungleichen Kampfe des Bauernburschen mit dem unbezwingbaren Drachen schließlich sein augenzwinkerndes Spiegelbild erkennen.

So lockt Theussls Gesang den Zuhörer zuverlässig in die Erkenntnis, mit dem eigenen Leben einen kostbaren Schatz in Händen zu halten, den es zu bergen und zu pflegen gilt. Und folglich wird das Konzert im Vereinsheim tatsächlich ein lebensbejahendes Todesprogramm. Das dank CD oder Download daheim immer wieder erlebt werden kann. Wozu hiermit allen Lebenden vor dem unausweichlichen Ende ausdrücklich angeraten wird.

P.S.: Wer nach der ersten CD des Albums vom Sterben noch nicht genug hat, der findet im Digipack eine zweite Scheibe mit der gleich von mehreren Dutzend Theussl-Freunden eingesungenen „Moritat vom reisenden Kinde“, die im Vereinsheim als Dauerzugabe mit allen anwesenden Künstlern ihren blutrünstigen Frohsinn entfaltete. Bis dann um 22 Uhr auf unbarmherzigen KVR-Erlass die Musik erstarb, das Saallicht aber ein im äußersten lebendiges Publikum enthüllte.

Das Monster der Sterblichkeit: Christian Moser ist tot.

Auf dieses Wiedersehen mit Christian hatte ich mich ganz besonders gefreut: Im Schwabinger Vereinsheim war „Café Melanie“ angekündigt – jene viel zu selten gehörte skurrile Herrenkapelle aus Christian Moser und Severin Groebner, die mit Hingabe und Elektropiano absurdes eigenes Liedgut schmetterte. Aber am Nachmittag vor der Vorstellung kam eine launige E-Mail: Die eine Duohälfte (er selbst) sei krank, die andere (Severin) aber auch allein hinlänglich komisch. Das klang für mich nach einer kleinen Unpässlichkeit – doch dann hörte am nächsten Morgen Christians Herz plötzlich zu schlagen auf.

Die Zeitungen schreiben von einem Infarkt und einem Herzfehler, Christians Freunde sagen, das sei gar nicht sicher – aber letztendlich spielt es auch gar keine Rolle. Christians von Kreativität sprühendes Leben als Musiker, Comiczeichner, Autor, Illustrator, Darsteller – und als geschätzter Freund ist mittendrin urplötzlich zu Ende. Unerwartet. Unerklärlich. Unfassbar.

Musik, Comics, Bücher, Bilder, Inszenierungen – schon allein Christians künstlerisches Wirken scheint kaum zu umfassen. Eines aber verband alle seine Facetten: Die bewundernswerte Fähigkeit, große Fragen und lange Geschichten in wenigen, aber klaren und sinnlich erfahrbaren Zügen darzustellen. Das klingt fast mehr nach einer Lehrer­persönlichkeit. Und tatsächlich: Christian hätte – da bin ich mir vollkommen sicher – jeden Klassenraum, auch jeden Hörsaal mit seiner leisen, sympathischen Autorität für sich erobern können.

Er aber wählte als Autor und Zeichner seinen ganz eigenen, besonderen Weg. In aufwändig mit eigenen Zeichnungen gestalteten Bänden stellte er Geistesgrößen wie Johann Wolfgang von Goethe oder Sigmund Freud samt Werk und Wirken vor. Und breitete seine Bildung grade im vermeintlich „bildungsfernen“ Genre des Comics aus.

Seine Perfektion aber fand Christian in meinen Augen in den „Monstern des Alltags“: Der Neid, die Heuchelei, das schlechte Gewissen, der Weltschmerz,  die innere Leere – und Dutzende weitere kleine und größere menschliche Schwächen erhielten von Christian als knuffige Wesen mit großen Augen und bunten Farben eine greifbare Gestalt.

Die Monsterbilder zu betrachten ist ein Vergnügen – aber sie entwickeln darüber hinaus blitzschnell eine aufklärerische Kraft. Im Angesicht von Christians Schöpfungen fand ich mit anderen Menschen ins Gespräch tief unter allen Oberflächlichkeiten: Sonst scheinbar Unaussprechliches wird bildlich begreifbar, der subtile Humor der Zeichnungen betäubt Schmerz und Furcht, die plötzlich so putzigen Verfehlungen auch in sich selbst zu suchen.  Mosers Monster sind Kunstwerke, Gesprächstherapie und philosophischer Diskurs in einem – in Christians Bildern wird das ganz große ganz klein – um sich dann in den Köpfen seiner Leser und Betrachter wieder zu einem schier unendlichen Kosmos zu entfalten.

Eingebettet hat Christian die Monsterbilder in das hingebungsvoll mit lateinischen Gattungen und Grafiken gestalteten Layout eines klassischen zoologischen Atlanten – eigentlich hätten seine Bände statt des Paperbacks einen Ledereinband verdient gehabt. Und der Welt der Studierzimmer und Lederfolianten schien er auch selbst selbst entstiegen zu sein, wenn er im Kittel mit spitzbübischem Ernst und einem Diaprojektor seine Geschöpfe präsentierte. Dieses Bild des sympathischen Forschers und Suchers fand seine schlüssige Fortsetzung in der liebevoll gestalteten Altbauwohnung, die Christian in der Münchner Au gemeinsam mit ungezählten Bildern und Skulpturen seiner Monster bewohnte und die mir stets ein Wenig das Gefühl vermittelte, ein zoologisches Institut zu betreten.

Was nun aber den bewundernswerten Künstler Moser so wirklich liebenswert machte, war seine spürbare Zuwendung und sein Mitgefühl mit allen seinen Figuren – und also auch dem dahinter verborgenen Menschen – auch, oder sogar gerade im Angesicht von Fehlern und Schwächen.  Selbst in seiner Bild-Biografie Karl Mays – den Christian in unerbittlicher historischer Korrektheit als Lügner, Hochstapler und Kleinkriminellen entlarvt – bewahrt der zusammenphantasierte Superheld und Universal­gelehrte stets Würde und kann Mitgefühl auf sich ziehen. Und als ich selbst das große Vergnügen hatte, gemeinsam mit Christian auf der Bühne Psychologie und Physik des deutschen Autofahrers  zu ergründen, entdeckte er mir auch in den PS-protzenden Rasern ganz vertraute menschliche Züge.

Ich hatte bei all unseren Begegnungen den Eindruck, dass das Glück und die versöhnliche Erkenntnis, die seine Werke stifteten, auch Christian selbst still beglückt haben. Und dass das Leben, aus dem es ihn in voller Fahrt herausgerissen hat, ein glückliches gewesen ist. Das mag ein kleiner Trost sein im Angesicht des liebens- und bewundernswerten Menschen, den wir mit Christian verloren haben. Wie sehr ich ihn schätzte und wie er mir fehlen wird, das habe ich mit diesen Zeilen grade erst zu begreifen begonnen. Und ebenso begreife ich, wie viel Glück und Vergnügen er verschenkt hat.

Danke für das alles, Christian. Und adieu.

Der Nutzen der Losigkeit: Sven Kemmlers „Die 36 Kammern der Nutzlosigkeit“

Leistungsgesteigerte Deos,  steueroptimierte Salami und just-in-time-produzierte Joghurts, die statt nur zu sättigen auch gleich noch den Enzymhaushalt aufräumen: Im effizienzgetrimmten Deutschland des Jahres 2013 ist die Nutzlosigkeit zur akut bedrohten Spezies geworden. Kein Wunder also, dass Sven Kemmler ins geheimnisvolle Kloster eines fernen Landes aufbrechen muss, um das Nutzlose in seiner ganzen zwecklosen Breite zu erlernen. Dank Vorqualifikation als Kabarettist wird er dort auch sofort als Novize akzeptiert und durchläuft auf der Bühne der Münchner Lach- und Schießgesellschaft im erbarmungslos sinnlosen, aber titelstiftenden Parcours   „Die 36 Kammern der Nutzlosigkeit“.

Schon der Titel von Svens neuem Soloabend weckt Assoziationen an einen einschlägigen Kung-Fu-Epos der späten Siebziger und Novize „Seven“ füttert dieses Klischee, indem er im mönchskuttigen Hotelbademantel durch den Abend schlurft und mit shaolinesker Kung-Fu-Rhetorik um sich schlägt.

Unerbittlicher Lehrmeister bei der Initiation in die hohe Kunst der prokrastinativen Phrasen­drescherei  ist ihm dabei sein eigenes Kloster-Tagebuch, das latent gegen den Autor aufbegehrt und sich mit immer neuen Grätschen und Kontern dagegen wehrt, einfach nur friedlich auf der Bühne vorgelesen zu werden. So  führt der vorzügliche Kemmlersche Wortwitz in Mönch und Buch einen atemlosen Schaukampf gegen sich selbst, bei dem als Kollateralschäden eine ganze Riege grenzdebiler literarischer Gestalten in der Bandbreite von Kapitän Ahab bis zur Biene Maja auf die Bretter geworfen wird.

Pausenlos prasseln die Seitenhiebe und Fuß(noten)tritte, bis das krawallgebürstete Tagebuch zynisch feststellt, dass der ganze Abend schon deshalb gescheitert sei, weil nicht eine einzige Frau vorkam. (Maja zählt offenbar nicht …)  Und dann lädt es Seven wieder dort ab, wo alles begann: In einer angeranzten Boazn  – dem wohl letzten Asyl, das den Jüngern der Nutzlosigkeit in München noch geblieben ist.

Fazit: Kemmlers Solo verweigert sich konsequent jedem höheren Sinn und allen etablierten kabarettistischen Formen. Und ist doch – was schon die Reaktion des Publikums beweist –  ununterbrochen ein formlos-sinnloses Vergnügen. Womit also die gediegene Nutzlosigkeit triumphiert – und sich dadurch im selben Moment selbst widerlegt: Das Nutzlose nützt. Wer sich selbst überzeugen möchte, findet weitere Termine hier:

http://www.sven-kemmler.de/termine/

Lerche und Revolver: Silvester mit der Schwabinger Bürgerversammlung

Die dritte Wiederholung in Folge rechtfertigt es wohl, von so etwas wie einer Tradition zu sprechen, wenn die  Schwabinger Bürgerversammlung auch den Silvesterabend 2010/11 im Vereinsheim gestalten soll. Diesmal bekommt das Projekt den Titel „Romeo und Julia im Wilden Westen“ sowie die weit gefasste Genre-Beschreibung „Neo-Trash-Western-Eso-Musical incl. Lerche und Revolver“ verpasst. Die vielseitigen Interpretationsmöglichkeiten dieser Ankündigung sind der ganz pragmatischen Notwendigkeit geschuldet, alle diese Optionen auch tatsächlich bis zur allerletzten Minute offen zu halten.

Denn schließlich besteht das (inzwischen auch schon traditionelle) Konzept dieser Veranstaltungsreihe im Kern darin, eigentlich gar keines zu haben. So exisitiert für die etwa zweistündige Abendveranstaltung bis zuletzt nur ein knapp vierseitiges Textskelett, an dem sich die Charaktere improvisierend entlang hangeln müssen. „Wie üblich fallen Probezeit und Premiere mehr oder weniger zusammen“ schreibt dann auch die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ankündigung ganz treffend.

Die allergrößte Unbekannte in diesem Spiel gegen alle guten Regeln des geordneten Theaterbetriebs bleibt allerdings das Publikum und dessen Reaktion auf die Bühnenanarchie mit nach unten offener Niveauskala. Nach den beiden vergangenen Jahreswechseln sollten eigentlich alle gewarnt sein. Trotzden hat Johanna Leitner, Kompetenzträgerin des Vereinsheims für Vor- und Ausverkauf auch diesmal schon wieder lange vor „Proben“-Beginn nahezu sämtliche Tickets verscherbelt. Aber vielleicht liegt das ja auch nur an dem 3-Gänge-Menü, das der Veranstalter als einzig geordnetes Element des Abends im Pauschalpreis eingeschlossen hat?

So hält sich bei mir – und auch das hat Tradition – das schmeichelhafte Gefühl, trotz meiner schwabingfernen Wohnadresse (am Hauptbahnhof über den Bahnsteig von Gleis 11 und dann durch die Ladezone der Mitropa) wieder auf die Bühne eingeladen zu werden in etwa die Waage mit der pathologischen Urangst, dort ohne Text und Ideen nackt im Rampenlicht zu stehen.

Die ersten Arbeitstreffen sind nicht wirklich angstabbauend: Der schwabinger Bürgerversammlungs-Kern aus Till Hofmann, Sven Kemmler, Michi Sailer und Moses Wolff hat mich schon vorab in Abwesenheit zum Romeo berufen. Und hat außerdem – ein noch nie dagewesenes Ereignis in der Geschichte der Versammlung – eine Frau in die Reihen aufgenommen. Was für eine, das wird mir gleich bei der ersten Begegnung in aller Dramatik klar: Marlene Morreis ist mit Energie, Austrahlung und Explosivität gesegnet wie ein Atomkraftwerk knapp vor der Kernschmelze.

Gerade frisch von der Schauspielausbildung in New York zurück, wird sie vermutlich in einigen wenigen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Hollywood-Karriere einen vielstelligen Dollarbetrag aufbringen, um diesen Silvesterabend aus ihrer Vita und dem kollektiven Gedächtnis tilgen zu lassen. Für den Augenblick aber ist sie per Dekret des Skripts mit mir verlobt, ein Umstand, dessen Stanislawski-gerechte Vermittlung an das Publikum einigen Überbau aus elterlichem Zwang und jugendlicher Naivität und großer Furchtlosigkeit notwendig macht.

Eine gewisse Furchtlosigkeit fordert das Unternehmen auch von allen Darstellern – immerhin sieht das Konzeptskelett vor, als Schlussbild das berühmte Kommune-1-Gruppenfoto in der Original-Kostümierung nachzustellen. Damit es vorher auch etwas auszuziehen gibt, absolvieren wir einen wundervollen Besuch im Kostümverleih, wo ich als Ergänzug zu meinem Mausgrauen Sacko (ein Relikt einer anderen Versagerrolle an der Pasinger Fabrik) noch einen Überwurf im modischen Müllsack-Schnitt bekomme, während meine Verlobte mittels eines Korsetts weiter aufgerüstet wird.

Über solchen Vorbereitungen vergehen dann auch die wenigen „Probentage“ wie im Fluge und ehe wir uns versehen ist auch schon Silvester und dann ist es plötzlich auch schon sehr spät und wir werden von Johanna Leitner, der Beauftragen des Vereinsheims für elementare Struktur und Ordnung (BeSO) auf die Bühne gejagdt.

Dort dürfen die Dalton-Brüder zunächst einzeln etwas Selbstdarstellung betreiben. Dank meiner mangels Probe unverbrauchten Ahnungslosigkeit kann auch ich mich dabei noch trefflich amüsieren, besonders über Sven Kemmler als Sartre-affinen Pistolero. Doch dann beginnt die Interaktion der Figuren, die in weiten Strecken von einer dadistisch anmutenden Grundsatzdebatte der Trias Sex, Drogen und Rock’nRoll geprägt ist.

Ich komme der schriftlich niedergelegten Anweisung, meiner die freie Liebe predigenden Verlobten impertinent mit der Sehnsucht nach einem monogamen, bauspar-finanzierten Reihenhaus nachzusteigen, so lange konsequent nach, bis Julia den Revolver als letztes Mittel zum Baustop begreift. Was anschließend geschieht, lässt sich bei mir nur noch fragmentarisch aus dem Gedächtnis abrufen. Wir halten uns aber nach bestem Wissen und Gewissen an die einige Tage zuvor abgegebene Pressemitteilung [PDF].

Immerhin ein Teil des Gesamtkonzepts geht (beinahe, s.u.) reibungslos auf: Das Publikum, mittels Hauptspeise in eine verdauende Erduldungsstarre sediert, folgt dem diffusen Auftakt ohne Murren. Im weiteren Verlauf halten sich dann die Erosion des schlüssigen Plots und die Trunkenheit im Saal in etwa die Waage. Und schließlich endet alles im tumultartigen Jubel einer übergangslos einsetzenden Party, in deren Verlauf noch weitaus schrägere Paarungskonzepte zu beobachten sind, als vorher auf der Bühne dargestellt. Erst im Morgengrauen gelingt es Johanna Leitner (BeSO), den Saal einer (auch wirklich erforderlichen) Grundreinigung zuzuführen.

Fazit: Ich ziehe erschöpft und gezeichnet vom angetrockneten Angstschweiß, aber mit einer diffus-glücklichen Erinnerung in ein neues Jahr. Und die teilt offenbar auch das ganze Publikum.

P.S.: Das ganze Publikum? Nein, ein von unbeugsamen Bildungsbürgern bevölkerter Tisch hört nicht auf, der Erosion des Niveaus Widerstand zu leisten. Und so muss Johanna Leitner, Beauftrage des Vereinsheims für Sanftmut und Weltfrieden in den ersten Tagen des neuen Jahres doch noch eine erboste E-Mail  beantworten, in der das Ensemble unter Verweis auf Goethe und Schiller darüber aufgeklärt wird, dass der Abend trotz anderweitiger Spontanäußerungen aus dem Publikum nicht komisch und unterhaltend gewesen sei.

Einfach reich beschenkt: Luise Kinseher im Lustspielhaus

Zunächst scheint alles ganz einfach: Luise Kinseher will aussteigen, die einsame Alm in den Schweizer Alpen ist schon bezahlt. Und so erscheint sie gleich am Anfang ihres Soloprogramms Einfach Reich mit dem Bündel der Geldscheine aus der Abendkasse, um ihren Abschied zu verkünden und das Eintrittsgeld zurückzuzahlen.

Aber so einfach geht es dann doch nicht: Der unbürokratischen Rückzahlung steht plötzlich Frau Buchhalterin Rösch entgegen, die als Fleischwerdung der Kinseherschen Krämerseele erst einmal vorab eine steuerwirksame Quittung von jedem Gast einfordert. Sich aber dabei sofort mit der shopping-affinen Frau Lachner aus dem Marketing überwirft. Dann platzt auch noch die gealterte Diva Frese in die Runde, um die Führung einer ökonomisch optimierten Ehe zu erläutern („Wo hat mein Heinz die Banane her? Sein Taschengeld reicht dafür nicht …“) und mittendrin krakeelt „Mary from Bavary“ herum, die der Einsamkeit genauso ab- wie dem Alkohol zugeneigt scheint.

Ein solcher Tumult aus Darstellern ist an sich schon erstaunlich für einen Soloabend. Noch erstaunlicher aber ist, dass es dazu weder Verkleidungsexzesse noch alberner Requisiten bedarf: Die Figuren enstehen mitten auf der Bühne allein aus Luise Kinsehers Mimik, Gestik und Sprache. Und zwar so instantan, dass sie sogar miteinander Dialoge führen können, ohne dass je der Faden verloren geht. Die ungeheure Präzision dieses Wechselspiels ist ganz sicher auch ein großer Verdienst der Regisseurin Beatrix Doderer.

Was den Abend aber jenseits aller darstellerischen Perfektion zum großen Ereignis macht, ist der kluge, scharfe aber doch wohlwollende Blick auf das menschliche Wesen. Denn die vielen Seelen, die wohl (ach!) in jeder Brust wohnen, sind nirgendwo alle einzeln mit ihren schwergewichtigen Bedenken in solcher Leichtigkeit zu erleben wie im Kinseherschen Kabarett.

Auf diese Weise wird das Ringen um Geld und Glück zu einem Streifzug durch die Seele jedes Zuschauers: Die schräge Damenriege ertappt nacheinander die Charakterdefizite des Betrachters und lockt ihn in den guten Vorsatz, es ab sofort viel besser machen zu wollen. Aber nur, um ihn Augenblicke später die totale Vergeblichkeit dieses Versuchs begreifen zu lassen.

So bleibt am Ende auch die Frage offen, ob die immer wieder hoch gelobten Kühe der Schweizer Alpen wirklich die besseren Menschen sind. Denn schließlich hält „Mary from Bavary“ noch ein berauscht-berauschendes Schlussplädoyer für das ganz menschliche Beisammensein. Dieses Sein scheint auch das Publikum ganz außerordentlich zu genießen. Denn im Applaus zeigt sich die große Einmütigkeit, mit den Weisheiten des Abends viel, viel besser weggekommen zu sein, als mit einem rückerstatteten Eintritt.

Auf diese Weise schnödes Geld gegen den Reichtum der Kinseherschen Klugheit einzutauschen, sei jedem Glücksucher aufs Wärmste angeraten. Wenn es ihm denn gelingt, Karten für eine der (ganz zurecht) auf Monate hinaus ausverkauften Vorstellungen zu ergattern. Aber es kann ja auch nicht alles einfach sein.

Kulturgenuss ganz ab vom Schuss: Kult-Comedy-Nacht in Schnaittach

Schon seit Hänsel und Gretel sind abgelegene Örtlichkeiten die bevorzugten Ziele der Mythos- und Legendenbildung. So geht auch unter den Bayerischen Kleinkünstlern die Legende um, dass es tief, tief im Wald hinter Nürnberg ein sagenhaftes Kabarett-Theater gäbe, das seine Künstler nicht nur mit größtem und fröhlichstem Publikum, sondern auch mit leckerstem Speis und Trank und schönster Atmosphäre beglücke, und deshalb überall nur das „Tausendschön“ genannt werde. Alles in allem also so eine art Knusperhäuschen für rampensäuisch-verfressene Bühnengestalten.

Da obendrein noch die Homepage dieser Bühne von gängigen Webfiltern als „Category: Nudity and Risque“ blockiert wird, muss ich dieser Sache mal persönlich nachgehen – und so lasse ich mich von Humortycoon Matthias Matuschik zur Kult-Comedy-Nacht nach Schnaittach in die sächsische Schweiz einladen.

Entgegen anderslautender Gerüchte besitzt dieser abgelegene Ort einen Bahnhof, dessen nigelnagelneue Bahnsteigpflasterung übrigens in scharfem Kontrast zum akut einsturzgefährdeten Bahnhofsbau steht. Und sympatische Einheimische: Der erste, den ich auf der Suche nach dem Theater anspreche, führt mich durch den ganzen Ort (gut: soo weit ist es nicht …) bis auf die Zielgerade zum „Tausendschön“.

Dort treffe ich auf Christoph Knüsel, Kurt Knabenschuh, Daniel Helfrich und Alexander Wolfrum, die es wohl auch alle einmal wissen wollen. Und tatsächlich: Der Saal ist groß (und voll), das Essen (das die Künstler in voller epische Breite vor- und nachkosten dürfen) vorzüglich und die ausgelassene Stimmung wirkt weit über die Vorstellung hinaus nach.

Dann aber kommt es noch idyllischer: Weil Schnaittach trotz Ab-vom-Schuss-Lage von Messetouristen aus Nürnberg überrant ist, hat uns der Veranstalter in Osternohe einquartiert, einem Epizentrum der Abgeschiedenheit, das wir gegen drei Uhr morgens nach einer stark erratisch geprägten Überland-Taxifahrt erreichen. Dem voraus geht ein stundenlanges Warten auf ebendieses Taxi, das der Veranstalter nutz, um seine Gäste mit den unzähligen Biersorten der Wolfshöher Brauerei zu betanken.

Nach einer traumlosen Nacht stehe ich also am sonnigen Sonntagmorgen in einer Örtlichkeit, deren Attraktionen auf der Pensions-Website wie folgt beworben werden.

Unser Ort bietet: Öffentliche Telefonzelle – Evang. Kirche – Skiliftanlage – gut markierte Wanderwege.

In Erinnerung an die Taxi-Erfahrungen entschließe ich mich zur Nutzung der Wanderweg-Infrastruktur und genieße eine Heimreise im Drittelmix: Eine Stunde Fußmarsch durch die Fränkische Schweiz zurück nach Schnaittach (dort Kurzbesuch auf dem SPD-Ortsfest zu Ehren der neuen Bahnsteigpflasterung), eine weitere Stunde Regionalbahn nach Nürnberg und dann eine rasante dritte Stunde im ICE nach München.

Luxus für Lyrik: Slam Poetry auf der „Experimentellen 16“

Genau so sah schon immer mein Poetiker-Traum aus: In eine der schönsten Gegenden Deutschlands reisen, mit der Regionalbahn eine Stunde lang den Bodensee entlang tuckern und dann am Ziel gleich vor dem Bahnhof von einem Plakat mit der eigenen Visage drauf begrüßt werden. 500 Meter entfernt hat der Veranstalter ein schönes Hotelzimmer reserviert (und nicht nur das: er hat es auch bezahlt!). Nach einem guten Abendessen geht es mit Chauffeur von dort aus in Begleitung einer bewährten Kollegin und einem –gen (Katinka Buddenkotte und Stefan Abermann) auf ein historisches Schloss, wo im Schlosshof zwischen Palmen und Skulpturen schon ein Mikrofon nebst einem hundertköpfigen Publikum in der Abendsonne warten.

Die Triobesetzung auf der Bühne erlaubt während des wolkenlosen Sonnenuntergangs einen komfortablen 1:2-Rhythmus aus Vortrag und Vorglühen, das Publikum ist begeistert bei der Sache, ein zweiköpfiges Pressekommando knipst und schreibt mit und nach einem rauschenden Schlussapplaus spendiert der Schlossherr im Mondschein noch drei Quadratmeter Pizza und einen Hektoliter Rotwein.

Das alles habe ich natürlich zunächst nicht für wirklich halten können. Aber als ich nach dem Aufwachen im weichen Hotelbett am Frühstücksbuffet aber tatsächlich auch noch die Traumgage vom Vorabend wieder in meiner Tasche vorfand, musste ich doch endlich begreifen, dass mir alle oben geschilderten Beglückungen bei meinem Auftritt auf Schloss Randegg tatsächlich genau so zugestoßen waren.

Also, liebe Veranstalter: Durch die Erfahrung anstrengungslosen Wohlstands und Wohlbefindens bin ich ab sofort total verzogen und verdorben. Nachtquartiere in Form von Backstage-Sofas, Kleinkunstbühnen als verkappte Raucherkneipen und halbleere Säle mit desinteressierten Gamma-Trinkern halte ich folglich fortan nicht mehr für gottgegeben.

Bei Fragen zu den Details der artgerechten Künstlerbetreuung wenden Sie sich bitte an:
Förderkreis für Kultur und Heimatgeschichte e.V., Gottmadingen und dessen fürsorliche und lebenslustige Vorstände und Schlossherrn Roland Huber, Bernd Gassner und Titus Koch. Und richten Sie dort bitte auch gleich meinen herzlichen Dank aus!

P.S.: Das hier hat der Südkurier geschrieben.

P.P.S.: Zusätzlich zur Schloss-Lesung gab es noch eine Open-Air-Matinee im benachbarten Thayingen / Schweiz. Dort ist aus dem alten Dorffriedhof ein sehr lebendiges Areal geworden: Um ein kleines Amphitheater herum finden sich Schaukeln und Rutschbahn und direkt am Bühnenrand steht ein gemauerter Grill.

Roessl Revisited: Die Wiederauferstehung des „Weißen Rößl“ im Lustspielhaus

Das Weiße Rößl ist tot! Das schien zuletzt einhellige Meinung der deutschen Theater zu sein. Nach jahrzehntelangem Zuritt mit schwulstigen Heimatklischees, Hubschrauberknattern und Peter-Alexander-Gejodel sowie der Helmut-Kohl-Verklärung des Wolfgangsees mitsamt Christoph Schlingensiefs Badeurlaub für Arbeitslose schien das 1930 uraufgeführte Singspiel vom Salzkammergut, dem schönen Salzkammergut bestenfalls noch für Trash- und Zombie-Reiterferien zu taugen.

Erstaunlich also, dass Lustspielhaus-Regisseur Christian Lex sich für die Sommerspielzeit das Rößl vornimmt. Und noch erstaunlicher: Er nimmt das Werk ernst. Und eben deshalb nicht wörtlich. So gelingt es ihm, die Geschichte vom großem See, dem kleinem Wirtshaus, der ewigen Sehnsucht und den plötzlichen drei Hochzeiten auf gute zwei Stunden herunter zu destillieren. Und auf nur sieben Darsteller.

Aber was für welche: Für die Paraderollen hat Lex gestandene Kabarettisten gecastet, von denen jede und jeder ein Urgewächs seines jeweiligen Rössl-Biotops ist. Los geht’s mit Severin Groebner, in seinen Soloabenden Prototyp des Österreichers, der als Zahlkellner Leopold von Anfang an so raumgreifend gelassene Trägheit ausstrahlt, dass man für die trotz Premierengedränge fürsorgliche Aufmerksamkeit des passend gedirndelten Lustspielhaus-Personals an diesem Abend besonders Dankbar ist.

Ziel seiner gemächlichen, aber doch inbrünstigen Sehnsucht ist Luise Kinseher als Wirtin Josepha, in deren robuster Geschäftigkeit stets so viel großäugige Hilflosigkeit sichtbar wird, dass man Leopolds Avancen beinahe selbst mit Eifersucht begegnet.

Thomas Wenke – zuletzt Mitglied im Ensemble der Lach- und Schießgesellschaft – ist als Dr. Siedler ein überzeugend schillernder Lebemann, hat aber seine allergrößten Momente als schwerhöriger Kaiser, der im Rollator über die Bühne quietscht und die trivialen Lebensweisheiten des Singspiels so zerbrechlich austeilt, dass sie schon wieder anrühren können.

Für Leben und Lautstärke sorgt derweil Norbert Steinke. Er gibt den Berliner Totalquerulanten Giesecke mit einer Vehemenz, die auch im grantler-abgestumpften Bayern noch durchdringt. Josepha Sophia Sem reizt und neckt mit doppelbödiger Unschuld als sein Töchterchen Ottlile. Und Regisseur Christian Lex schlüpft schließlich selbst noch in die Rolle des schönen Sigismund, dessen kleine Schönheitsfehler aber bald die amüsante Frage stellen, ob er vom schüchternen Klärchen tatsächlich abgöttisch bewundert oder von ihr abgeklärt um den Finger gewickelt wird.

Zu Tempo und Unterhaltung trägt schließlich in ganz besonderer Weise Constanze Lindner bei, die in ihren beiden Rollen in geradezu chaplinesker Manier mit Armen, Beinen und Gesicht viel mehr redet als mit Ihrem forsch fordernden (Kathie) oder zuckersüß lispelndem (Klärchen) Mundwerk.

Eine im Vergleich zum Schauspiel noch dramatischere Rosskur wird im Lustspielhaus der Musik zuteil: Vom einst gigantischen Orchester (in der jüngst wiederentdeckten Originalpartitur kommen bis zu 250 Musiker vor) bleiben in der Bearbeitung von Stefan Dettl (LaBrassBanda) und Hans Kröll grade mal drei Blechbläser übrig. Die aber als Trio dennoch jede Nuance der Musik treffen und sich dabei weit aus dem volksmusikalischen bis in den Jazz und den Swing hinauswagen.

So ist dank dem konsequent umgesetzten Arbeitsmotto „wenig Aufwand, viele Ideen“ alles zu sehen und zu hören, was ein lebendiges Rössl ausmacht: Die Ohrwurm-Musik aller Rössl-Schlager ebenso wie das Gewitter überm Wolfgangsee, sämtliche amourösen Verwicklungen, den Kaiser selbst und in der Summe einen ganzen Abend lang kurzweilig intelligente Unterhaltung.

Allein mit dem Ton hatte die Premiere mitunter noch zu kämpfen. Die Mischung der auch unverstärkt sehr präsenten Bläser mit dem Gesang war gerade vorn im Saal mitunter unausgewogen. Vermutlich vor allem ein technisches Problem, denn hin und wieder blieben einzelne Darsteller ganz ohne Verstärkung.

Dass es nach der Pause im Ensemble ein Wenig menschelte und die Darsteller spontan liegengebliebene Requisiten verräumten, miteinander über den richtigen Text debattierten oder auch einen zweiten Anlauf in eine Musiknummer einforderten, das konnte am Premierenabend die Begeisterung des Publikums nur noch mehr anfachen. So gab es einen klanglich mehr als befriedigenden Schlussapplaus, in dessen nicht enden wollendem Getöse Constanze Lindner mit einer feinen Nuance zum Publikumsliebling gekürt wurde.

Womit also bewiesen wäre: Das Rößl lebt, es ist sogar quietschlebendig. Es muss nur frisch aufgezäumt und mit Hingabe, aber ohne Pomp und Pathos vorgeführt werden. Weitere Ausritte gibt es bis zum 14.8.2010 jeweils dienstags bis samstags. Ein Besuch wird empfohlen.