Poesie unter der Pickelhaube

Veranstaltungen am 24. und 26. 9. 2008 / Maxi Schafroth: Faszination Allgäu, Heppel & Ettlich, München

Pickelhaube

Wie, bitteschön, kann ein bäuerlicher Kleinbetrieb im Allgäu wohl von der ach so hippen Delfin-Therapie profitieren? Ganz einfach – die moderne Trend-Quacksalberei muss nur ein wenig an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden – so wie es Maxi Schafroth als dankbarer Innovationslandwirt seinen „Geldgebern“ im Publikum erklärt: Da wird anstelle des Pools einfach eine Güllegrube mit Wasser aufgefüllt, dann mit dem Trecker gutsituierter Bogenhausener Nachwuchs ans Wasser kutschiert und schliesslich der namensgebenden Meeressäuger einfach durch eine robuste Milchkuh ersetzt – fertig ist eine Allgäuer Erfolgsgeschichte.

Die sprichwörtliche Bauernschläue ist es, der Maxi Schafroth in seinem bunten Allgäu-Abend huldigt, indem er seinen Heimat-Landsprich zwar spöttelnd, aber doch immer liebevoll auf der Kabarett-Bühne präsentiert. Die zahlreich im Publikum vertretenen Echt-Allgäuer scheinen Spott und Liebe auch gleichermaßen zu spüren, denn sie amüsieren sich prächtig und klären im Dialog mit der Bühne die unwissenden Städter mit Inbrunst über die Geheimisse der Region auf. Höhepunkt der sympathischen Selbstironie ist Maxi Schafroths Vater, der vom Sohnemann auf der Bühne als cholerisch fluchendes Rumpelstilzchen verkörpert wird, während der der Echte hinten im Saal sitzt und in der Pause als freundlich beredter Gemütsmensch erlebt werden kann.

Allein diese unaufdringlich stolzen Heimatreflexion macht die „Faszination Allgäu“ zu einem Erlebnis. Aber Maxi Schafroth nähert sich den Biotopen aus Bierzelt und Bauernhof musikalisch und in Begleitung an. Da wäre zunächst Marcus Schalck, der als souveräner Begleiter sämtliche Veitstänze auf der Gitarre untermalt. Richtig pompös wird die Musik dann durch Trompete und Posaune der Trachtenformation „Lehler Lackl“, die auch mit Satzgesang einspringt.

Ein weiteres Ereignis im Allgäuer Kosmos ist Rafael Dwinger in der Rolle des singenden Viehhändlers „Sergej“. Der stolpert als Ukrainischer Allgäu-Immigrant durch das Programm, sagt dabei kaum ein Wort mehr als absolut notwendig – und spricht mit seiner Mimik und Gestik doch Bände. Und dann krabbelt Maxi noch auf allen Vieren mit einer jungen Opernsängerin über die Bühne und singt ein opernentlehntes Milchkuh-Duett.

Irgendwo in diesem furiosen Voralpenpanorama soll ich dann auf Wunsch des Protagonisten meinen Platz finden. Wir probieren es mit verschiedenen Konzepten: Am ersten Abend bekomme ich aus dem Fundus der Schafrothschen Preußen-Trash-Soap eine Pickelhaube ausgeliehen und soll dann den integrationsresistenten Zuagroastn geben, für dessen Eingliederung ins bayerische Bühnenleben die Veranstalter sich mit Fördergeldern schmieren ließen.

Mangels irgendwelcher Erfahrung als Pickelhauben-Träger baue ich in der Stellprobe gleich einen dramatischen Unfall: Mit der Haubenspitze bin ich deutlich höher als die Feuerschutztür des Bühnenaufgangs, was einen heftigen Schlag in meinen Nacken, sehr viel Lärm und einen Blechschaden zur Folge hat.

In der ersten Aufführung komme ich dank unmilitärischer Buckelei heil bis ans Mikrofon, ernte dann aber mit meinen Ausführungen über die Vorzüge, die ein „Deutscherrr Schäferrrhund“ gegenüber über dem Bayerischen Dackel („Leberwurst am Abschleppseil“) hat, einiges Erstaunen. In der zweiten Runde probieren wir es pickellos mit einem Stadt-Land-Konflikt und ich starte in der letzten Reihe, um mich mit meiner agoraphobischen Schmähung der „Händchen haltenden Liebespaare“ durch den (trotz Oktoberfest) restlos ausverkauften Saal bis zu Bühne zu brüllen. Was entgegen der gedichteten Handlung ganz reibungslos gelingt, weil sich das Publikum mit angsterfülltem Blick vor mir teilt.

Wie auch immer: Meine gänzlich allgäu-unerfahrenen Agentinnen im Saal schwärmen anschließend in den höchsten Tönen von den Reizen der idyllischen Natur im Allgemeinen (und von Raphael Dwinger im Speziellen); und auch ich bekomme in nett entspanter Runde an der Bar noch manch freundliches Wort zu hören.

Dann aber holt mich die unidyllische Oktoberfest-Realität wieder ein: Mein Taxifahrer donnert mit starrem Blick und verriegelten Türen am Hauptbahnhof durch die Horden der taxiwinkenden Maßkrug-Zombies und besteht darauf, mich am äußersten Ende meiner stillen Seitenstraße abzusetzen, damit die Wiesn-Wiedergänger nicht in erbrecherischer Absicht sein leeres Fahrzeug stürmen.

Bunter als das Bierzelt: Blickpunkt Spot

Veranstaltung am 22.9.2008 / Blickpunkt Spot, Vereinsheim, München

Vereinsheim-Logo
Der erste Oktoberfest-Montag – auch der Blickpunkt scheint unter der magnetischen Anziehungskraft zu leiden, die schlecht gefüllte, aber gut abgerechnete Bierkrüge auf die Münchner zu haben scheinen. Aber so finden die Gäste im Vereinsheim einen klaren Komfort-Kontrast zum Bierzelt vor: Ein eigener Stuhl für jeden, Temperaturen unterhalb des Treibhausniveaus, kein Kondenswasserregen von der Decke … und viel bunter als die Bier-Blasmusik-Monokultur ist der Abend auch.

Alles beginnt wie gewohnt: Michael Sailer schildert in einer weiteren Geschichte aus dem „Schwabinger Krawall“ charmant die Poesie des Scheiterns.

Dann aber die erste Überraschung: der „Pinguin“. Den Darsteller habe ich vor der Vorstellung am Tresen noch als unauffällig angepassten älteren Herren kennen gelernt. Auf der Bühne aber gibt er dem Publikum detailliert Anleitung, im drögen Alltagsleben unangepasst aus der Rolle zu Fallen und führt seine wahnwitzigen Alltagsparodien dann auch gleich mit pantomischem Einsatz vor.

Meinen Überraschungshöhepunkt erlebe ich direkt dannach mit Carmela de Feo. Die hatte mir zwar lange schon als „La Signora“ unergründlich von ihrem Plakat im Vereinsheim entgegengeblickt, war so aber von mir unvorsichtiger Weise in die „weltschmerzende Toscana-Liedermacherei“ sortiert worden. Werch ein Illtum!! (E. Jandl) Über die Bühne fegt eine perfekt inszenierte akkordeonbewaffnete Chimäre aus dem Ego von Marilyn Monroe, der erotischen Ausstrahlung meiner Handarbeits-Lehrerin, der Musikalität von Astor Piazzola und dem Dialekt einer Oberhausener Frittenbude. Der in der Summe entstehende musikalisch-pornografische Ruhrpott-Brachialnarzismus ist zu allem Überfluss auch noch intelligent gestrickt, entlarvt ganz nebenbei die pseudo-erotisch überreizte Lieblosigkeit der Medienwelt und führt mit der erregten Stalker-Sehnsucht der Signora auch gleich noch den Zwiespalt der Sucht nach Berühmtheit und Begehrtheit vor.

Eine derbe Überraschung muss auch Stephan Zinner wegstecken, der eigentlich als „Zinner & Band“ angekündigt war. Der ausgebrannter Motor im PKW seines anreisenden Bassisten macht ihn spontan wieder zum Solokünstler mit Schlagzeugbegleitung. Dass er auch in dieser Teilbesetzung sofort das Publikum erobert, beweist ebenso seine darstellerische Leistung wie die humoristische und musikalische Kraft der selbst komponierten Lieder.

Dann bin ich an der Reihe, versuche die elf-nullige Rettungsaktion des amerikanischen Finanzministeriums für die armen, Not leidendenden Investmentbanken zu verstehen, gebe ein Paar Börsentips und lasse schließlich einen Wurm im Liebessturm sterben.

Martin Puntigam spurtet zum Schluss aus der Lach&Schieß herüber und berichtet aus seiner Österreichischen Heimat. wobei er virtuos mit den Grundfarben Ekel, Mitleid und Überraschung jongliert.

Dann noch freundliche Gespräche und ein Bier (als Halbe ausgeschenkt, aber vermutlich fast genau so viel drin wie in einem Maßkrug). Schön war’s.

Neuer Meister für den Kiez

Veranstaltung am 20.9.2008 / Kiezmeisterschaft, München

Die Kiezmeisterschaft an jedem dritten Samstag eines Monats ist mein Slam-Jour-Fixe. Aber gerade deshalb auch mein Angstslam. Denn ich habe hier so ziemlich jede Zeile meiner gesammelten Werke schon einmal vorgetragen. Und Veranstalter Ko Bylanzky wacht eisern über das Verbot von Wiederholungen. Weshalb ich die dritten Samstagnachmittage jedes Monats regelmäßig am Schreibtisch verbringe, um dann mit einem Werk anzutreten, bei dem die Tinte noch feucht – pardon, besser: der Toner noch warm – ist. Diesmal muss ich aus Gründen des Fertigstellungstermins sogar meinen Wochenendeinkauf (Brot, Käse, Milch) mit ins Stragula nehmen – aber egal: ist ja alles für die Dichtkunst.

Slamchef Bylanzky lässt sich diesmal entschuldigen, wird aber mit Dichter Heiner Lange und Life-a-Holic Christian Bumeder (aka Bumillo) durch zwei einschlägig vorbeslammte vertreten. Die beiden machen ihre Sache gut: Energetische Anmoderationen und souveräne Abwicklung der Bewertung verschaffen jedem der zwölf Dichter eine aufmerksame Atmosphäre im zwischendurch (wiesnbedingt) etwas unruhigen Publikum.

Den ersten Höhepunkt des Abends schafft gleich am zweiten Startplatz Sonja Popp. Die junge (vermutete) Schülerin schildert ihre Erlebnisse aus Großmamas „Umerziehungslager“ zur perfekten Haus- und Ehefrau. Originell erzählt und gespickt mit den Hausfrauentips der vorletzten Generation („Siehst Du Kalk auf Fliesen sprießen, gleich mit Essig übergießen“) stellt sie ganz unaufdringlich famililäre Rollen und Abhängigkeiten zur Diskussion. Die Person auf der Bühne – ihre eigene offenbar – passt haargenau zu Rolle und Stil. Perfekt. Schade, dass die Jury am Anfang des Abends offenbar noch nicht ganz in ein konsistentes Bewertungsschema gefunden hat.

Benedikt Halkel zieht im Folgenden mit seiner stillen Poesie die Wertungen nach oben. Muss sich aber gleich Wolfgang Tischer geschlagen geben, der mit dem ganz neuen Genre der Suffix-Poesie antritt. In seiner Chat-Korrespondenz mit der Chinesischen Freundin Ling erklärt er “ … ich habe dich Lieb, Ling“, mutiert dann aber zum “ … dann werde ich wüst, Ling“.

Der Begeisterungs-Gipfel der Jury ist jedoch erst direkt nach der Pause mit Jakob Nacken erreicht. Der dekliniert nachts im Bett aus Anlass seines unter der schlafenden Freundin eingeschlafenen Arms sämtliche großen Fragen der Paarbeziehung durch. Denkt, spricht und agiert dabei so überzeugend authentisch wie es sich für sein Berufsbild aus Theaterpädagogen, Darsteller und Improspieler wohl gehört. Ganz großes Theater, das den restlichen Abend nicht mehr zu toppen ist.

Im Schatten dieses Gipfels tummeln sich anschließend Sebastion Stopfer mit seiner apokalyptischen Deutschland-Science-Fiction, Christoph Kastenbauer mit der stillen, aber doch schonungslosen Betrachtung verfahrener Familienverhältnisse, Manni Eder, André Jahn – und direkt im Anschluss an Jakob auch ich selbst mit meinem Geheimtip, was nach Öl-, IT- und Immo-Krise der nächste Börsen-Hype sein wird: Gedichte (zumindest so lange, bis auch die Sprech-Blase platzt).

Für mich reicht es knapp ins Finale, wo ich als dritter gleich zum Auftakt mit Pantherversteher Rainer Maria M. abrechne. Suffix-Dichter Tischer erklärt dann deutsche Vor- und Städtenamen, ernet aber mehr entsetztes Stöhnen als Begeisterung. Freie Bahn also für Jakob, der mit einer sprachlich schönen und stark vorgetragenen Frühlingsode an das Leben die Begeisterung klar und verdient auf seiner Seite hat. Glückwunsch dem neuem Kiezmeister.

Lausch- und Rauschangriff

Veranstaltung am 19.9.2008 / Poetry Slam „Lauschangriff“, Augsburg

Augsburg = ausverkauft. Diese empirische Gleichung gilt trotz Ferienausklang ein weiteres Mal – und die Verhältnisse an der nur für wenige Minuten wirklich existierenden Abendkasse sind so dramatisch, dass ich um kurz vor knapp noch den mir bekannten Resten der Reservierungsliste hinterher telefoniere, damit auch ganz sicher niemand umsonst weggeschickt wird. Der von hinten bis ganz vorne gefüllte Saal ist ein angenehmer Kontrast zum Ebersberger Kulturtage-Slam, wo das Publikum sich nur als „Randgruppen“ auf den Sofas entlang der weit entfernten Saalwände lümmelte.

Nach dramatischer Anmoderation von MC Horst Thieme macht Nils Rusche den gelosten Auftakt mit einer intelligent gestrickten und schön gereimtem Verschwörungsgeschichte: Die Tauben, vorgebliche Friedensstifter, metzeln sich in Wahrheit schon seit der Arche Noah blutrünstig durch die Weltgeschichte. Im Anschluss ein Augsburger Weltschmerzmelker, der mich nicht wirklich mitreißen kann. Vermutlich auch deshalb, weil ich als geladener Gast direkt nach ihm meinem Startplatz entgegenfiebere.

Der Lauschangriff ist einer der epischen Zehn-Minuten-Slams – und davon gelockt krame ich meine Selbstbeichte als (offenbar doch nicht endgültig) geheilter Poesieabhängiger aus dem Gedächtnis. Nach dem Flop der Drei-Minuten-Rasantversion beim WDR-Poetry-Slam kommt die Acht-Minuten-Variante offenbar gut an – und macht mit reichlich Gelegenheit zur Exzentrik auch als Vortragender viel mehr Spaß. Albrecht Rau verliest anschließend noch eine große Portion Trashlyrik – dann bekomme ich genug Applauslärm für’s Finale.

Ein besonderes Phänomen ist nach der Pause Matylda. Die hält ihre dunklen und destruktiven Gedanken nicht verborgen – ich erlebe sie aber als die erste Autorin dieser Art, der dazu eine darstellerische Distanz und mitunter sogar Selbstironie gelingt. Und die damit ihre eigene Zerissenheit auch für außen stehende erahnbar werden lässt. Darüber hinaus verleiht sie mit den „Zerschmetterlingen“ selbst der Zerstörung eine sprachliche Schönheit. Ihr folgt im Kontrast die nächste Autorin mit einem Fuck-George-Doublejuh-Text, dessen ungebrochener Schwall aus Hass am Publikum ganz offenbar ohne Wirkung abperlt.

Michael Jakob– zweiter geladener Gast – fährt als dritter der Runde eine Doppelstrategie: Erst mit „Papier“ etwas neues ausprobieren, anschließend mit seiner Fragenliste einen kampferprobten Knaller hinterher – die zehn Minuten Redezeit machen es möglich. Cornelia Koepsell kommt da mit durchaus interessanten und klugen, aber (am Ende auch für die zehn Minuten) zu weit scheifenden Geschichten nicht gegen an.

So stehen sich zum Finale die beiden Auswärtsgäste gegenüber. Jetzt muss es mit jeweils nur noch drei Minuten ganz schnell gehen. Ich werde rückfällig und reime „Den Butt“ zusammen, Michael initiiert mit dem „Manifest für die Nacktheit“ auf der Bühne eine Altkleider-Sammlung. Der Manifest-Applaus ist frenetisch, der Butt-Beifall in den Ohren des MC Horst aber noch ein Hauch frenetischer. Also darf ich für alle den Schampus entkorken.

Anschließend bin ich so belauscht und berauscht, dass ich um Haaresbreite den Absprung zum letzten Zug nach München verpasse. Meine zunächst fast filmreife Flucht mit dem Taxi verliert dann aber auf dem Bahnhof aufgrund einer zehnminütigen Zugverspätung doch erheblich an Dynamik …

Last Exit Ebersberg

Veranstaltung am 17.9.2008 / Kulturtage Ebersberg

„Nur fünf Minuten vom S-Bahnhof.“ Mit diesem Argument hatte Ditar Kalaja für sein Gastspiel des Poetry Slams „Freispruch“ im Rahmen der Kulturtage Ebersberg geworben. Ich kaufe also nach der Arbeit für fünf Euro einen Ergänzungsfahrschein zu meiner Monatskarte und bin um fünf nach sieben an besagter Bahnstation, wo das Gleis der Münchner S-Bahn in einem robusten Prellbock endet.

Mit der Fünferbande Manni Eder, Rüdi Lössl, Frank Sohler und einem mir bis heute unbekannten Poeten geht es von dort in den scheunenartigen Veranstaltungsraum. Dort komme ich aber nur physisch an. Was vermutlich daran liegt, dass der Mittwochabend mein fünfter nachtaktiver Tag in Folge ist und es am Abend zuvor bei Sven Kemmlers Premierenfeier doch ein wenig spät wurde (ich war gegen fünf wieder zuhause).

Ich komme dann auch gleich als allererster an die Reihe. Das Publikum (fünfzig Personen auf fünfhundert Quadratmetern) lümmelt sich auf den entlang der Außenwände aufgestellten Sofas und befindet sich somit knapp innerhalb der Hörweite. Nach mir gelingt es Michael Jakob mit einer aktualisierten „Fragenliste“ und „Tofu“ auch das entferntere Publikum zu erreichen. Rudi Lössl und Benni Hakel aka Ernst Froh machen die Viererrunde voll. Meine gefühlte Publikumswertung ist Platz fünf.

Fünf Minuten später bin ich wieder am Bahnhof, fünfzig weitere Minuten dannach sinke ich in einen komaartigen Tiefschlaf. Zum Schluss eine aufrichtige Entschuldigung an alle, die unter meiner Erschöpfung zu leiden hatten und nicht angemessen unterhalten, gewürdigt oder verabschiedet wurden.

Endlich: Sven Kemmlers große Beglückung

Veranstaltung am 16.9.2008 / Lach- und Schieß-Gesellschaft

Sven Kemmler: Endlich

… irgendwann muss es doch endlich gelingen, glücklich zu sein?! Sven Kemmler stellt sich in seinem zweiten Kabarett-Soloprogramm „Endlich“ einer ganz großen Aufgabe: Er will beweisen, dass das Glück erlernbar ist. Die freundlich begrüßten „Seminarteilnehmer“ in der Lach&Schieß bekommen zu diesem Zweck auch gleich einen minutiös festgelegten Flipchart-Fahrplan präsentiert.

Den soll zunächst der kitteltragende „Experte“ abarbeiten, der mit forscher Selbstgewissheit antritt, sich dann aber schnell immer hoffnungsloser zwischen Hausfrauenweisheiten und der Quantenmechanik verheddert. Den Kontrast dazu bildet die ins Diktiergerät reflektierte Lebensbeichte eines Auftragskillers, der bei aller abstoßender Zynik doch Sympathie weckt, weil zumindest er offenbar etwas von dem versteht, was er tut.

Als Reaktion auf eine verpatzte telefonische Menübestellung springt dann noch ein säbelschwingender Sushi-Samurai auf die Bühne. Und demontiert furios die ach so populäre Glücksuche in der verklärten (weil nicht verstandenen) Exotik, indem er mit außuferndem Pathos einen Heldenmythos zelebriert, der sich bei genauem Hinhören als die Geschichte vom Räuber Hotzenplotz herausstellt.

Im sich virtuos immer weiter steigernden Tumult ist doch immer klarer zu erkennen, dass Sven Kemmler den neurotische Empathie-Eunuchen, den herzlosen Lebensbeender und den heldenmütigen Kasperle-Verklärer in ihrem verzweifelten Scheitern klug auf ein ein großes Ziel hin steuert: Alle drei hauen bei ihren Versuchen, das Glück in Worten und Bildern fest zu nageln so oft von allen Seiten virtuos daneben, dass inmitten des zertrampelten Terrains schließlich eine Silhouette des Glücks stehen bleibt, die jeder Betrachter mit seinen ganz eigenen Vorstellungen füllen kann.

Von der Bühne spühen derweil unentwegt Wortwitz und Ideen in solchem Tempo, dass mitunter kaum noch Platz für das Gelächter bleibt. Und zwischendrinn sogar eine zarte Poesie, in der endlich eben auch als Vergänglichkeit begreifbar wird.

Neben inhaltlicher Stärke hat Endlich auch dramatische Qualität: Die Figuren sind interessant gestaltet, differenziert dargestellt, entwickeln sich und werden im Verlauf des Abends immer stärker miteinander verwoben. Bühnenbild, Licht, Musik und Requisiten sind sparsam, aber bewusst und wirkungsvoll eingesetzt.

Das alles ist sicher auch ein Verdienst von Eva-Katrin Herrmann (bitte nicht mit der fast namensgleichen dogmatischen Herd-Hüterin zu verwechseln), die nach langer Karriere als Schauspielerin in diesem Programm ihr Regie-Debut gibt.

Gemeinsam gelingt es Kemmler und Hermann also, das große Thema Glück zwischen brachialen Figuren doch ganz zärtlich und poetisch in die Zange zu nehmen. Das ist ebenso klug wie komisch – und macht ganz augenscheinlich das Publikum weit über das Ende der Vorstellung hinaus glücklich. Quod erat demonstrandum.

Poesie im spielfreien Rundlauf

Veranstaltung am 14.9.2008 / Schweinfurter Dichter-Schlachtschüssel

Torpedo-Dreigang

Schweinfurt. Da denkt der Herr Ingenieur doch sofort an weich schnurrende Kugellager in der ewigkeitserprobten Torpedo-Nabe. Mich aber lockt diesmal der Open-Air-Poetry-Slam der Dichter-Schlachtschüssel in die Fränkische Tüftlermetropole.

Auch Schüssel-Chef Manfred Manger hat so einiges auszutüfteln, denn am aus dem Juli in den September verschobenen Slamtermin leuchtet zwar die Abendsonne, bringt aber draußen vor dem Ebracher Hof keine auch nur annähernd zum Stillsitzen taugliche Temeratur mehr zustande. So wird das Schüsselschlachten in die eher gediegen wirkende Gaststube verlegt, wo sich das Publikum architekturbeding vor, seitlich, hinter und unter dem Sprecherplatz arrangiert, der zudem nach vorn durch ein Balkongeländer abgezäunt ist. Auch dass hinter dem Mikrofon ein mannshoher Sparkassen-Sponsorenwimpel flattert und auf den Tischen O2-Bonbons liegen ist in der sonst kommerzallergischen Slam-Welt eher ungewöhnlich.

Um halb neun haben sich vor dieser Kulisse schließlich sieben Dichter und ein etwa vierzigköpfiges Publikum versammelt, in dem die gut trainierte Schüler-Slam-Szene den Ton angibt.

Leider sind die auswärtigen Poeten ebenso unberechenbar wie das Wetter; eine ganze Reihe sagt kurzfristig ab oder tritt ohne Nachricht nicht an. Ein Glück also, dass Christian Ritter sich auf der Reise zwischen Würzburg und Bamberg zu einem Slam-Stopover überreden lässt. Ob dieses Spontaneinsatzes ohne gedruckten Text unterwegs, darf er mit dem Notebook auf die Bühne.

Michael Feindler schafft dann gleich in der ersten Runde den Dichter-Hattrick: (1) Unverbrauchte, tragfähige Themen in (2) geschliffener Sprache – und zwar (3) lebendig vorgetragen. Das Publikum kreuzt per Stimmzettel Michael und mich ins Finale, wo sich aus der zweiten Runde noch Dauerfinalist Ritter und das Schweinfurter Team „Top 2“ hinzugesellen. Als dann schließlich das Publikum kleine Porzellanschweine austeilt, machen die Vertreter der ersten Lebenshälfte die Sache unter sich aus und Michael reckt verdient die goldene Schüssel zum überdachten Dichterhimmel.

Alles in allem ein Poetry Slam wie ein gutes Kugellager: Auch unter Belastung rund (aber nicht heiß) laufend, ein bisschen geschmiert und durch gute Pflege sehr dauerhaft.

Ich erlebe am nächsten Morgen um sechs dann doch noch ein weiteres Mal fränkische Präzision, als meine Rückreise trotz knapper Transfertoleranzen zwischen Bus, Regionalzug und ICE präzise so abläuft, wie am Abend zuvor vom Computer prophezeit.

Bänkelsänger 2008

Veranstaltung am 13.9.2008 / Anderart-Festival, Odeonsplatz, München

Laubblaeser

„Typisch München? Typisch anders!“ Das „AnderArt-Festival“ soll im Rahmen des Münchner Stadtgeburtstags auf dem Odeonsplatz eine Open-Air-Bühne für die kulturelle Vielfalt der Stadt bieten. Auch die Slam-Poesie soll da ein paar Gedanken zu Stadtgeschichte und Migration beitragen.

„Bei freiem Eintritt und bei jedem Wetter“ – das waren dabei die beiden wichtigsten Werbeargumente des Münchner Kulturreferats. Leider erweist sicht nur das erste als wirklich zugkräftig. Der Münchner Sommer verweigert sich nämlich ebenso plötzlich wie vollständig und katapultiert die gefühlte Jahreszeit auf etwa Ende Oktober nach vorn. Die riesengroße offene Bühne tut das ihre dazu: „Poesie im Gefrierfach“ wäre ein passender Konzept-Titel gewesen. Die Veranstalter haben sich aber entschlossen, das einstündige Slam-Poetry-Programm unter dem Arbeitstitel „Bänkelsänger 2008“ anzukündigen.

DJ Rayl Patzak und MC Ko Bylanzky leisten folglich erst einmal ein wenig Aufklärungsarbeit. Anschließend wird Sturm-und-Slam-Dichter Bumillo losgelassen, der wortgewaltig erklärt, wie die Zuagroasten an München erst erstaunen, dann verzweifeln und schließlich aber doch ankommen können. Unglaublich, wie viele Ideen aus diesem erklärten „Live-a-holic“ heraussprudeln. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er gegenwärtig auch an seiner Magisterarbeit im Fach Theaterwissenschaften schreibt. Ich würde da innerhalb kürzester Zeit in der Wortschatz-Erschöpfung steckenbleiben.

Dann darf ich ran. Die Aussicht von der Bühne direkt vor der Feldherrnhalle auf die Leopoldstraße ist atemberaubend. Ich bekomme irgendwann doch wieder Luft und trage zunächst mit „Der letzte Freie“ meine Ballade über die Mikromigartion der Einkaufspendler und deren Verdrängungswettbewerb um den letzten freien Parkplatz am Stachus vor. Es folgt die Beziehungsbilanz mit meiner Freundin München. Zum Schluss muss der Laubbläser ran, der dank reichlicher Verstärkung auf dem Odeonsplatz eine ungeheure Akustik entwickelt.

Dritter in der Bänkelsänger-2008-Runde ist Heiner Lange; der wird zunächst „Der kleine Dichter, der die Stadt schön machen will“, um dann als „Backpacker“ mit den globetrotteligen Rucksacktouristen der Lonely-Planet-Sekte abzurechnen.

Als besonderes Kunst-Crossover-Konzept tobt sich Graffiti-Künstler Robert Kaltenhäuser während der Performances live mit der Spraydose auf der Bühne aus. Eine – wie sich schnell herausstellt – grandiose Idee, denn zum einen hilft die großflächige Malerei, den gigantisch großen Bühnenraum zu füllen, in dem ein einzelner Poet sonst schnell verloren wirken würde. Vor allem aber hat sich Robert mit ebenso viel Aufwand wie Ideen auf die Texte vorbereitet. So zaubert er neben seinen spontanen Formen auch vorbereitete Elemente auf die Leinwand. Bumillo bekommt eine übergroße „Süddeutsche Zeitung“, die genau in der Choreografie seines Textes aufgeblättert wird. Bei mir gibt es eine fast schon daumenkinoartige Laubbläser-Bildfolge, von der hinterher das ganze Publikum schwärmt. Ich selber bekomme auf der Bühne in meiner Gebläse-Verrohung leider überhaupt nichts davon mit.

Kongeniales Meisterstück der Wortmalerei wird aber zum Schluss die Lange-Kaltenhäuser-Performance von „Mal mal“ – Heiner Langes dadaistische Annäherung an die Bob-Ross-Malerei, in deren Verlauf jedes der Bilder aus dem Text Sekunden später auf der Leinwand zu sehen ist.

Es gibt einen netten Ausklang bei aus öffentlichen Mitteln subventioniertem Bier inmitten des wirklich multikulturellen Ambientes aus asiatischem Essen, italienischer Architektur, afrikanischen Rhythmen und sibirischem Klima. Vielen Dank also an das Kulturreferat als Veranstalter und an dessen hauseigene Techniker für eine ganz außergewöhnlich poesietaugliche Großbeschallung – vor allem aber an das frost- und wasserabweisende Publikum.

Physi-Kabarett: „Science Busters“

Veranstaltung am 11.9.2008 / Science Busters, Lustspielhaus, München
Schaltplan Funkeninduktor
Endlich, endlich, verschaft einmal jemand meinem Studienfach seinen Platz auf der Bühne. Physikalisches „Edutainment“ hat sich das Wiener Trio der „Science Busters“ auf die Fahnen geschrieben. Und sich als Thema des Abends – schon des Datums wegen – die Verschwörungstheorien vorgenommen.

Die Besetzung verspricht Kompetenz in Unterhaltung und in Physik: Denn mit Martin Puntigam tritt ein vielfach ausgezeichneter Kabarettist auf die Bühne, dem mit Professor Heinz Oberhummer und Univ. Lekt. Werner Gruber zwei echte Physik-Dozenten der Wiener Universitäten zur Seite stehen. In dieser Echtheit liegt aber auch das große Problem des Abends: Die beiden Wissenschaftler sind nämlich auf der Bühne genauso echt wie im Hörsaal. Der konzeptionelle Unterschied zu einer gewöhnlichen Vorlesung besteht also nur in Puntigam, der als Moderator den Abend vorwärts treibt und den Dozenten mit bösen Fragen und spitzen Kommentaren in die Paraden fährt.

In vorlesungsbewährter Weise bewegen sich alle drei zwischen Leinwand, Pult und Experimentiertisch. Manchmal gelingen dort experimentelle Geniestreiche, wenn etwa Gruber mittels Sand, Papp-Astronauten und dem Theaterlicht beweist, dass auch im Sonnenlicht nicht alle Schatten gleich sind – und so in der Sandkiste eine der impertinentesten Verschwörungstheorien zur Mondlandung der Amerikaner widerlegt.

In anderen Augenblicken aber wird großer Aufwand mit wenig Wirkung betrieben – z.B. indem in einer infernalisch lauten Filmeinspielung der nackte Arnold Schwarzenegger als Muster-Außerirdischer über die Leinwand grunzt. Entsprechend unterschiedlich bleibt der Lerneffekt: Einiges ist auch für unvorbelastete Beobachter zu verstehen, andere Themen sind so gewählt, dass sie in einem Atemzug auch gar nicht verständlich zu erklären sind. Und manches ist auch nur als Schock- und Ekel-Effekthascherei zu begreifen.

Nach den Maßstäben der Unterhaltung beginnt irgendwann die Beweglichkeit und Wandelbarkeit der Figuren zu fehlen. Gruber doziert stets raumgreifend, Puntigam spöttelt unentwegt und Oberhummer hält sich mit klugen, aber seltenen Beiträgen sehr im Hintergrund. Das ist schade, denn eigentlich böten die häufig diametralen Weltsichten von Physikern und „normalen Menschen“ reichlich Gelegenheit, Konflikte auszutragen.

So werden die behandelten Verschwörungstheorien vom Blutwunder über den 11. Sptember bis zur Auslösung des Weltuntergangs im CERN nur von ihrer technischen Seite betrachtet. Ihr schillerndes Wechselspiel aus wissenschaftlicher Ahnungslosigkeit und menschlichen Urängsten bleibt weitestgehend außen vor. Auch der Umstand, dass sich mit Oberhummer ein Theoretiker und mit Gruber ein Experimentator gegenüberstehen und sich diese Spezies in freier Physiker-Wildbahn stets höchst skeptisch als „substanzlose Spinner“ bzw. „ideenlose Klempner“ betrachten, wird nur am Rande thematisiert.

Nachdem sich Rauch und Flammen der Schlussnummer verzogen haben, gibt es vom Publikum – in dem diesmal erstaunlich viele blässliche Brillenträger zu finden sind – einen sehr dankbaren Applaus. Physik und Unterhaltung müssen sich also doch nicht abstoßen wie zwei gleich geladene Teilchen. Womöglich könnten beide Disziplinen aber noch von interessanteren Bühnenfiguren, einem didaktischen Konzept und einer stärkeren Verflechtung mit dem „unwissenschaftlichen Denken“ profitieren.

Blickpunkt Rockt.

Veranstaltung am 8.9.2008 / Blickpunkt Spot, Vereinsheim, München

Vereinsheim-Logo Am Samstag noch banges Zittern um das Publikum – am Montag muss ich eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn schon wieder drängeln, um noch zum Blickpunkt Spot ins Vereinsheim hinein zu kommen.

Nach der rituellen Schwabinger-Krawall-Verlesung von Michi Sailer gelingt es Chris Böttcher, ein Duett von Carla Bruni und Nicolas Sarkozy ganz allein auf die Bühne zu bringen.

Dann klettert zu meiner persönlichen Freude mit Kathinka Budenkotte eine Weggefärtin des Poetry Slams auf die Bühne. Und erläutert in großen Bildern ihr Konzept des ultimativen Französichen Autorenfilms.

Julia Jahn, Vereinsheim-Bookerin und somit Barkeeperin des Blickpunkt-Kleinkunst-Cocktail-Mix hat just an diesem Abend Geburtstag. Ich stehe auf der Wunschliste; und weil sie unvorsichtiger Weise den schwarzen Panther als ihr Lieblingstier geoutet hat, darf dieser endlich einmal selbst zu Wort kommen und mit dem üblen Klischee abrechnen, dass ihm ein gewisser Rainer Maria R. vor geraumer Zeit schon angehängt hat. Moses Wolf setzt noch einen Julia-Rap obendrauf auf den Gabentisch.

Anschließend röhrt und säuselt Elli los und weckt den bis dato noch etwas verhaltenen Saal auf. Die Begeisterung – und die Styling-Verwandtschaft mit großen Teilen des Publikums – lassen vermuten, dass vor allem sie das urlaubs-untypische Gedränge im Saal zu verantworten hat.

Georg Koeniger trommelt virtuos ein Fußballspiel auf einem imaginären Schlagzeug. Den Abschluss macht Claus von Wagner mit einem Bühnen-Stopover auf dem Weg in den Scheibenwischer. Endlich wieder wirklich politisches Kabarett, das den StaatsträgerInnen mit Erinnerungen an deren unerfüllten eigenen Anspruch auf die Finger klopft, anstatt sie wie sonst so häufig nur als Klischeefiguren für überparteiischen Ulk zu benutzen. Bei alledem auch noch wirklich unbelehrend unterhaltsam, geistreich und in der Wirkung spontan – Kaktus, Beil, Stier und diverse andere Kleinkunsttrophäen sind zu Recht bei diesem Herrn abgeladen worden.

Fazit: Ein (wieder einmal) sehr bunter Abend mit gegen Ende kaum noch Luft zum Sprechen, in dem es diesmal alle Akteure ohne Gitarre etwas schwerer hatten als sonst.