Lerche und Revolver: Silvester mit der Schwabinger Bürgerversammlung

Die dritte Wiederholung in Folge rechtfertigt es wohl, von so etwas wie einer Tradition zu sprechen, wenn die  Schwabinger Bürgerversammlung auch den Silvesterabend 2010/11 im Vereinsheim gestalten soll. Diesmal bekommt das Projekt den Titel „Romeo und Julia im Wilden Westen“ sowie die weit gefasste Genre-Beschreibung „Neo-Trash-Western-Eso-Musical incl. Lerche und Revolver“ verpasst. Die vielseitigen Interpretationsmöglichkeiten dieser Ankündigung sind der ganz pragmatischen Notwendigkeit geschuldet, alle diese Optionen auch tatsächlich bis zur allerletzten Minute offen zu halten.

Denn schließlich besteht das (inzwischen auch schon traditionelle) Konzept dieser Veranstaltungsreihe im Kern darin, eigentlich gar keines zu haben. So exisitiert für die etwa zweistündige Abendveranstaltung bis zuletzt nur ein knapp vierseitiges Textskelett, an dem sich die Charaktere improvisierend entlang hangeln müssen. „Wie üblich fallen Probezeit und Premiere mehr oder weniger zusammen“ schreibt dann auch die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ankündigung ganz treffend.

Die allergrößte Unbekannte in diesem Spiel gegen alle guten Regeln des geordneten Theaterbetriebs bleibt allerdings das Publikum und dessen Reaktion auf die Bühnenanarchie mit nach unten offener Niveauskala. Nach den beiden vergangenen Jahreswechseln sollten eigentlich alle gewarnt sein. Trotzden hat Johanna Leitner, Kompetenzträgerin des Vereinsheims für Vor- und Ausverkauf auch diesmal schon wieder lange vor „Proben“-Beginn nahezu sämtliche Tickets verscherbelt. Aber vielleicht liegt das ja auch nur an dem 3-Gänge-Menü, das der Veranstalter als einzig geordnetes Element des Abends im Pauschalpreis eingeschlossen hat?

So hält sich bei mir – und auch das hat Tradition – das schmeichelhafte Gefühl, trotz meiner schwabingfernen Wohnadresse (am Hauptbahnhof über den Bahnsteig von Gleis 11 und dann durch die Ladezone der Mitropa) wieder auf die Bühne eingeladen zu werden in etwa die Waage mit der pathologischen Urangst, dort ohne Text und Ideen nackt im Rampenlicht zu stehen.

Die ersten Arbeitstreffen sind nicht wirklich angstabbauend: Der schwabinger Bürgerversammlungs-Kern aus Till Hofmann, Sven Kemmler, Michi Sailer und Moses Wolff hat mich schon vorab in Abwesenheit zum Romeo berufen. Und hat außerdem – ein noch nie dagewesenes Ereignis in der Geschichte der Versammlung – eine Frau in die Reihen aufgenommen. Was für eine, das wird mir gleich bei der ersten Begegnung in aller Dramatik klar: Marlene Morreis ist mit Energie, Austrahlung und Explosivität gesegnet wie ein Atomkraftwerk knapp vor der Kernschmelze.

Gerade frisch von der Schauspielausbildung in New York zurück, wird sie vermutlich in einigen wenigen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Hollywood-Karriere einen vielstelligen Dollarbetrag aufbringen, um diesen Silvesterabend aus ihrer Vita und dem kollektiven Gedächtnis tilgen zu lassen. Für den Augenblick aber ist sie per Dekret des Skripts mit mir verlobt, ein Umstand, dessen Stanislawski-gerechte Vermittlung an das Publikum einigen Überbau aus elterlichem Zwang und jugendlicher Naivität und großer Furchtlosigkeit notwendig macht.

Eine gewisse Furchtlosigkeit fordert das Unternehmen auch von allen Darstellern – immerhin sieht das Konzeptskelett vor, als Schlussbild das berühmte Kommune-1-Gruppenfoto in der Original-Kostümierung nachzustellen. Damit es vorher auch etwas auszuziehen gibt, absolvieren wir einen wundervollen Besuch im Kostümverleih, wo ich als Ergänzug zu meinem Mausgrauen Sacko (ein Relikt einer anderen Versagerrolle an der Pasinger Fabrik) noch einen Überwurf im modischen Müllsack-Schnitt bekomme, während meine Verlobte mittels eines Korsetts weiter aufgerüstet wird.

Über solchen Vorbereitungen vergehen dann auch die wenigen „Probentage“ wie im Fluge und ehe wir uns versehen ist auch schon Silvester und dann ist es plötzlich auch schon sehr spät und wir werden von Johanna Leitner, der Beauftragen des Vereinsheims für elementare Struktur und Ordnung (BeSO) auf die Bühne gejagdt.

Dort dürfen die Dalton-Brüder zunächst einzeln etwas Selbstdarstellung betreiben. Dank meiner mangels Probe unverbrauchten Ahnungslosigkeit kann auch ich mich dabei noch trefflich amüsieren, besonders über Sven Kemmler als Sartre-affinen Pistolero. Doch dann beginnt die Interaktion der Figuren, die in weiten Strecken von einer dadistisch anmutenden Grundsatzdebatte der Trias Sex, Drogen und Rock’nRoll geprägt ist.

Ich komme der schriftlich niedergelegten Anweisung, meiner die freie Liebe predigenden Verlobten impertinent mit der Sehnsucht nach einem monogamen, bauspar-finanzierten Reihenhaus nachzusteigen, so lange konsequent nach, bis Julia den Revolver als letztes Mittel zum Baustop begreift. Was anschließend geschieht, lässt sich bei mir nur noch fragmentarisch aus dem Gedächtnis abrufen. Wir halten uns aber nach bestem Wissen und Gewissen an die einige Tage zuvor abgegebene Pressemitteilung [PDF].

Immerhin ein Teil des Gesamtkonzepts geht (beinahe, s.u.) reibungslos auf: Das Publikum, mittels Hauptspeise in eine verdauende Erduldungsstarre sediert, folgt dem diffusen Auftakt ohne Murren. Im weiteren Verlauf halten sich dann die Erosion des schlüssigen Plots und die Trunkenheit im Saal in etwa die Waage. Und schließlich endet alles im tumultartigen Jubel einer übergangslos einsetzenden Party, in deren Verlauf noch weitaus schrägere Paarungskonzepte zu beobachten sind, als vorher auf der Bühne dargestellt. Erst im Morgengrauen gelingt es Johanna Leitner (BeSO), den Saal einer (auch wirklich erforderlichen) Grundreinigung zuzuführen.

Fazit: Ich ziehe erschöpft und gezeichnet vom angetrockneten Angstschweiß, aber mit einer diffus-glücklichen Erinnerung in ein neues Jahr. Und die teilt offenbar auch das ganze Publikum.

P.S.: Das ganze Publikum? Nein, ein von unbeugsamen Bildungsbürgern bevölkerter Tisch hört nicht auf, der Erosion des Niveaus Widerstand zu leisten. Und so muss Johanna Leitner, Beauftrage des Vereinsheims für Sanftmut und Weltfrieden in den ersten Tagen des neuen Jahres doch noch eine erboste E-Mail  beantworten, in der das Ensemble unter Verweis auf Goethe und Schiller darüber aufgeklärt wird, dass der Abend trotz anderweitiger Spontanäußerungen aus dem Publikum nicht komisch und unterhaltend gewesen sei.

Einfach reich beschenkt: Luise Kinseher im Lustspielhaus

Zunächst scheint alles ganz einfach: Luise Kinseher will aussteigen, die einsame Alm in den Schweizer Alpen ist schon bezahlt. Und so erscheint sie gleich am Anfang ihres Soloprogramms Einfach Reich mit dem Bündel der Geldscheine aus der Abendkasse, um ihren Abschied zu verkünden und das Eintrittsgeld zurückzuzahlen.

Aber so einfach geht es dann doch nicht: Der unbürokratischen Rückzahlung steht plötzlich Frau Buchhalterin Rösch entgegen, die als Fleischwerdung der Kinseherschen Krämerseele erst einmal vorab eine steuerwirksame Quittung von jedem Gast einfordert. Sich aber dabei sofort mit der shopping-affinen Frau Lachner aus dem Marketing überwirft. Dann platzt auch noch die gealterte Diva Frese in die Runde, um die Führung einer ökonomisch optimierten Ehe zu erläutern („Wo hat mein Heinz die Banane her? Sein Taschengeld reicht dafür nicht …“) und mittendrin krakeelt „Mary from Bavary“ herum, die der Einsamkeit genauso ab- wie dem Alkohol zugeneigt scheint.

Ein solcher Tumult aus Darstellern ist an sich schon erstaunlich für einen Soloabend. Noch erstaunlicher aber ist, dass es dazu weder Verkleidungsexzesse noch alberner Requisiten bedarf: Die Figuren enstehen mitten auf der Bühne allein aus Luise Kinsehers Mimik, Gestik und Sprache. Und zwar so instantan, dass sie sogar miteinander Dialoge führen können, ohne dass je der Faden verloren geht. Die ungeheure Präzision dieses Wechselspiels ist ganz sicher auch ein großer Verdienst der Regisseurin Beatrix Doderer.

Was den Abend aber jenseits aller darstellerischen Perfektion zum großen Ereignis macht, ist der kluge, scharfe aber doch wohlwollende Blick auf das menschliche Wesen. Denn die vielen Seelen, die wohl (ach!) in jeder Brust wohnen, sind nirgendwo alle einzeln mit ihren schwergewichtigen Bedenken in solcher Leichtigkeit zu erleben wie im Kinseherschen Kabarett.

Auf diese Weise wird das Ringen um Geld und Glück zu einem Streifzug durch die Seele jedes Zuschauers: Die schräge Damenriege ertappt nacheinander die Charakterdefizite des Betrachters und lockt ihn in den guten Vorsatz, es ab sofort viel besser machen zu wollen. Aber nur, um ihn Augenblicke später die totale Vergeblichkeit dieses Versuchs begreifen zu lassen.

So bleibt am Ende auch die Frage offen, ob die immer wieder hoch gelobten Kühe der Schweizer Alpen wirklich die besseren Menschen sind. Denn schließlich hält „Mary from Bavary“ noch ein berauscht-berauschendes Schlussplädoyer für das ganz menschliche Beisammensein. Dieses Sein scheint auch das Publikum ganz außerordentlich zu genießen. Denn im Applaus zeigt sich die große Einmütigkeit, mit den Weisheiten des Abends viel, viel besser weggekommen zu sein, als mit einem rückerstatteten Eintritt.

Auf diese Weise schnödes Geld gegen den Reichtum der Kinseherschen Klugheit einzutauschen, sei jedem Glücksucher aufs Wärmste angeraten. Wenn es ihm denn gelingt, Karten für eine der (ganz zurecht) auf Monate hinaus ausverkauften Vorstellungen zu ergattern. Aber es kann ja auch nicht alles einfach sein.