Das Weiße Rößl ist tot! Das schien zuletzt einhellige Meinung der deutschen Theater zu sein. Nach jahrzehntelangem Zuritt mit schwulstigen Heimatklischees, Hubschrauberknattern und Peter-Alexander-Gejodel sowie der Helmut-Kohl-Verklärung des Wolfgangsees mitsamt Christoph Schlingensiefs Badeurlaub für Arbeitslose schien das 1930 uraufgeführte Singspiel vom Salzkammergut, dem schönen Salzkammergut bestenfalls noch für Trash- und Zombie-Reiterferien zu taugen.

Erstaunlich also, dass Lustspielhaus-Regisseur Christian Lex sich für die Sommerspielzeit das Rößl vornimmt. Und noch erstaunlicher: Er nimmt das Werk ernst. Und eben deshalb nicht wörtlich. So gelingt es ihm, die Geschichte vom großem See, dem kleinem Wirtshaus, der ewigen Sehnsucht und den plötzlichen drei Hochzeiten auf gute zwei Stunden herunter zu destillieren. Und auf nur sieben Darsteller.

Aber was für welche: Für die Paraderollen hat Lex gestandene Kabarettisten gecastet, von denen jede und jeder ein Urgewächs seines jeweiligen Rössl-Biotops ist. Los geht’s mit Severin Groebner, in seinen Soloabenden Prototyp des Österreichers, der als Zahlkellner Leopold von Anfang an so raumgreifend gelassene Trägheit ausstrahlt, dass man für die trotz Premierengedränge fürsorgliche Aufmerksamkeit des passend gedirndelten Lustspielhaus-Personals an diesem Abend besonders Dankbar ist.

Ziel seiner gemächlichen, aber doch inbrünstigen Sehnsucht ist Luise Kinseher als Wirtin Josepha, in deren robuster Geschäftigkeit stets so viel großäugige Hilflosigkeit sichtbar wird, dass man Leopolds Avancen beinahe selbst mit Eifersucht begegnet.

Thomas Wenke – zuletzt Mitglied im Ensemble der Lach- und Schießgesellschaft – ist als Dr. Siedler ein überzeugend schillernder Lebemann, hat aber seine allergrößten Momente als schwerhöriger Kaiser, der im Rollator über die Bühne quietscht und die trivialen Lebensweisheiten des Singspiels so zerbrechlich austeilt, dass sie schon wieder anrühren können.

Für Leben und Lautstärke sorgt derweil Norbert Steinke. Er gibt den Berliner Totalquerulanten Giesecke mit einer Vehemenz, die auch im grantler-abgestumpften Bayern noch durchdringt. Josepha Sophia Sem reizt und neckt mit doppelbödiger Unschuld als sein Töchterchen Ottlile. Und Regisseur Christian Lex schlüpft schließlich selbst noch in die Rolle des schönen Sigismund, dessen kleine Schönheitsfehler aber bald die amüsante Frage stellen, ob er vom schüchternen Klärchen tatsächlich abgöttisch bewundert oder von ihr abgeklärt um den Finger gewickelt wird.

Zu Tempo und Unterhaltung trägt schließlich in ganz besonderer Weise Constanze Lindner bei, die in ihren beiden Rollen in geradezu chaplinesker Manier mit Armen, Beinen und Gesicht viel mehr redet als mit Ihrem forsch fordernden (Kathie) oder zuckersüß lispelndem (Klärchen) Mundwerk.

Eine im Vergleich zum Schauspiel noch dramatischere Rosskur wird im Lustspielhaus der Musik zuteil: Vom einst gigantischen Orchester (in der jüngst wiederentdeckten Originalpartitur kommen bis zu 250 Musiker vor) bleiben in der Bearbeitung von Stefan Dettl (LaBrassBanda) und Hans Kröll grade mal drei Blechbläser übrig. Die aber als Trio dennoch jede Nuance der Musik treffen und sich dabei weit aus dem volksmusikalischen bis in den Jazz und den Swing hinauswagen.

So ist dank dem konsequent umgesetzten Arbeitsmotto „wenig Aufwand, viele Ideen“ alles zu sehen und zu hören, was ein lebendiges Rössl ausmacht: Die Ohrwurm-Musik aller Rössl-Schlager ebenso wie das Gewitter überm Wolfgangsee, sämtliche amourösen Verwicklungen, den Kaiser selbst und in der Summe einen ganzen Abend lang kurzweilig intelligente Unterhaltung.

Allein mit dem Ton hatte die Premiere mitunter noch zu kämpfen. Die Mischung der auch unverstärkt sehr präsenten Bläser mit dem Gesang war gerade vorn im Saal mitunter unausgewogen. Vermutlich vor allem ein technisches Problem, denn hin und wieder blieben einzelne Darsteller ganz ohne Verstärkung.

Dass es nach der Pause im Ensemble ein Wenig menschelte und die Darsteller spontan liegengebliebene Requisiten verräumten, miteinander über den richtigen Text debattierten oder auch einen zweiten Anlauf in eine Musiknummer einforderten, das konnte am Premierenabend die Begeisterung des Publikums nur noch mehr anfachen. So gab es einen klanglich mehr als befriedigenden Schlussapplaus, in dessen nicht enden wollendem Getöse Constanze Lindner mit einer feinen Nuance zum Publikumsliebling gekürt wurde.

Womit also bewiesen wäre: Das Rößl lebt, es ist sogar quietschlebendig. Es muss nur frisch aufgezäumt und mit Hingabe, aber ohne Pomp und Pathos vorgeführt werden. Weitere Ausritte gibt es bis zum 14.8.2010 jeweils dienstags bis samstags. Ein Besuch wird empfohlen.

Von groeg

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