Wiesn-Wunden-Lecken

Veranstaltung am 06. 10. 2008 – Blickpunkt Spot Vereinsheim, München.

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Aus is! Die Zelte des Oktoberfests 2008 haben die letzten Freunde bierseeliger Gemütlichkeit ausgespien. Zeit, die Wunden aus dem zweiwöchigen Exzess zu lecken. Moderator Michi Sailer steht allen voran mit einer frisch genähten veritablen Platzwunde der Augenbraue auf der Bühne, an deren Entstehung er nur fragmentarische Erinnerung besitzt. Zusammen mit dem vom Tresenpersonal fürsorglich immer wieder frisch gefüllten Eisbeutel eine durchaus überzeugende Austaffierung für seine Schwabinger-Krawall-Geschichten.

Bevor er die erste verlesen darf, tobt als Kurzleihgabe aus dem Lustspielhaus Bülent Ceylan über die Bühne. Der spielt sehr lebendig und spontan mit den Deutsch-Türkischen-Klischeeverirrungen und legt dann noch einen furiosen „Bauchtanz“ hin. Ebenfalls mit viel Baucheinsatz setzen dann „Die Pertussis“ den Abend fort.

Moses Wolf greift dann wieder das Oktoberfest-Thema auf und gibt grantlerisch-grenzdebile Wiesn-Erinnerungen zum besten.

Ich selber habe nach acht Jahren des Wohnens im Epizentrum der Gemütlichkeit meine Lektionen gelernt (während der Festwochen im Geist um JEDEN Passanten einen Kreis mit dem Radius von dessen ausgestreckter Körperlänge ziehen und diesen weder betreten noch befahren) und bin ohne physische Blessuren davon gekommen. Dafür kann ich von türsteher-bewehrten Supermärkten und in unternehmerischer Eigeninitiative betriebenen Spontanbiergärten und Bedarfslatrinen im Oktoberfest-Erweiterungsgelände (vulgo: Vorgärten) berichten. Größte Publikumsresonanz erzeugt meine zweizeilige Spontanabrechnung als Kollateralschaden des Oktoberfestes:

Ey, ihr Bierzelt-Arschgesichter,
ihr seid dicht – doch ich bin Dichter!

Der Höhepunkt des Abends dann ganz zum Schluss: Tanztelegramm! Deren „Progressivpop im Dialekt“ (Selbstdefinition) ist melodisch eingängig und abwechslungsreich komponiert, klar und transparent abgemischt, mit musikalischer Perfektion vorgetragen – und greift im krassen Gegensatz zum üblichen Deutschpop-Brei in seinen Texten unverbrauchte Themen in origineller und poetischer Weise auf. Zu allem Überfluss scheint die Dreier-Boygroup auch noch unter allen weiblichen Gästen die Mutter- oder besser noch Schwiegermutter-Sehnsucht zu wecken. Tosender Applaus, Zwangszugabe. Allerbeste Stimmung.

Tief in der Nacht kehre ich glücklich mit dem Radl heim und freue mich auf der Hackerbrücke still daran, dass es zum ersten Mal seit zwei Wochen nicht mehr so aussieht, wie auf einem apokalyptischen Hieronymus-Bosch-Gemälde.

BLAM! BLAM! Baller-baller: Baader-Meinhof reloaded.

Veranstaltung am 04.10.2008 / Der Baader Meinhof Komplex, derzeit in viel zu vielen Kinos
Baader Meinhof
Wenn ein „zeitgeschichtlicher Dokumentarfilm“ (BLAMM!) mit einem Trailer im Rambo-Terminator-Stil (RATATATATATA!) angekündigt wird und selbst Ex-RAFie Peter-Jürgen Boock im Radiointerview die unreflektierte Gewalt bemängelt, dann hätte ich eigentlich gewarnt sein müssen. Aber ach, der linksintellektuelle Bildungskanon …

Also habe ich nach dem Trailer auch den Film selbst angesehen. Den Unterschied aber zunächt gar nicht bemerkt: Hektische Schnittfolge (ZOSCH!), schmerzhaft übersteigerte Geräusche (RUMMS!) und Effektgewitter (BLAFF!) toben hier nämlich genau so ununterbrochen wie im Trailer – der einzige Unterschied ist, dass das Inferno diesmal eben 150 Minuten lang andauert.

Zusammengetragen – oder besser formuliert – zusammengeschossen wird so ziemlich die komplette bewegte Handlung aus Stefan Austs gleichnamigem Standardwerk. Dabei bleibt ob des enormen Massakrierungs-Arbeitspensums von Benno Ohnesorg (PENG!) bis Hanns Martin Schleyer (PAFF!, PAFF!, PAFF!) schlicht keine Zeit für irgendwelche Nachdenklichkeiten. Einzig Ulrike Meinhof bekommt anfangs einige Minuten zugebilligt, um so etwas wie den Ansatz eines Charakters zu entwickeln. Später wird dann aber auch ihre halbjährige Zermürbung in der Isolationszelle filmisch in der Texteinblendung „sechs Monate später“ zusammengefasst.

Was die Beteiligten auf beiden Seiten also zu ihrem blutigen Handeln treibt, wie ebenso unter den Terroristen wie bei Polizei und Sicherheitsbehörden die Hardliner gegen die Gemäßigten anrennen oder gar die Verstrickungen der beiden Seiten – z.B. durch den V-Mann Peter Urbach – das bleibt in der grell bebilderten Gewaltspirale total im Dunkeln.

Gegenüber anderen, noch grausigeren Splatter-Dokus ist immerhin positiv anzumerken, dass sich das filmische Gemetzel zumindest einigermaßen an die belegten Fakten hält. Aber das dürfte dem Duo Edel-Eichinger leicht gefallen sein, weil die Vorbilder ja zum Glück auch in der Wirklichkeit genug geballert und gefickt (laut Baader gilt ohnehin: „Ficken und Schießen sind ein Ding.“) haben, um einen marktgängigen Spielfilm voll zu bekommen.

Was also in der Summe herauskomt, ist eine mehrstündige Aktenzeichen-XY-Dauerrotation (und zwar ohne ein Atemholen mit Pausenclown Eduard). Allerdings hatte das Aktenzeichen immerhin den Anspruch, die niederen voyeuristischen Instinkte des Publikums für die Verbrechensaufklärung zu instrumentalisieren – eine Legitimation, die dem Edelschen Gemetzel eben fehlt. Deshalb fällt es dann besonders unangenehm auf, dass kein einziges der Terroropfer über der Rolle einer Schießbuden-Figur heraus kommt und auch die Mehrzahl der Terroristen nur als Kugelfang eingesetzt wird.

Es sei der Fairness halber erwähnt, dass die Besetzung (offenbar ein Cut&Paste aus dem Who’s Who des deutschen Films) durchweg hohe darstellerische Leistung abliefert. Aber was nützt das in diesem Fall?

Bleibt als letzte Hoffnung, dass dieser Film zumindest etwas Aufmerksamkeit auf die – ja heute wieder wirklich brandaktuelle – Diskussion über die Hintergründe des Terrorismus lenken wird. Er selbst kann dazu nämlich nichts, aber wirklich gar nichts beitragen.

Nicht nicht helfen wollen hilft nicht.

Veranstaltung am 3.10.2008 / Kaspar Häuser Meer, Münchner Kammerspiele

Erledigt!

Ein Amt in Deutschland: Schreibtische, Formulare, Hirarchien. Materialisierte Langeweile. Eigentlich. Nur dass auf dem Jugendamt eben nichts Abstraktes, sondern das Schicksal von Kindern und Familien verwaltet wird und ein Verwaltungsakt so schnell zur Entscheidung über Leben und Tot werden kann.

Jugendamtssozialarbeiter Björn hat diesem Druck nicht standgehalten und ist mit Diagnose B(j)örn-Out auf unbestimmte Zeit aus dem Rennen. Seine drei Kolleginnen Barbara, Silvia und Anika stehen ratlos vor dem Scherbenhaufen und vor seinen fernmündlichen Beteuerungen, doch nicht nicht helfen zu wollen.

Dass solch ein Ausgangsszenario nicht notwendiger Weise in eine hilflos verschwurbelte Kevin-Gerichtsakte münden muss, beweist Felicia Zeller in ihrem Drama „Kaspar Häuser Meer“ – derzeit in der Regie von Lars-Ole Walburg in den Münchner Kammerspielen zu sehen (Weitere Termine hier!). Zentraler Träger des Abends ist Zellers großartiger Text, der in hohem Tempo Andeutungen, Assoziationen und Fragmente streut und damit die Gedanken der Zuhörer ständig in wacher Bewegung hält.

Walburgs Inszenierung ordnet sich diesem Meisterwerk respektvoll unter und verhilft dem Text ideenreich zu besonderer Wirkung. Da ist zunächst der Clou, alle drei Damenrollen von jungen Männern im Rock spielen zu lassen. Das erzeugt am Anfang zwar verlegenes Kichern im Saal – aber schon nach wenigen Augenblicken ist klar, dass hier keine billige Transennummer zu sehen ist, sondern im Gegenteil durch dieses Befremden alle Frauenfiguren vor dem Abrutschen ins Klischee geschützt werden.

Lasse Myhr, Steven Scharf und Sebastian Weber beherrschen auch als männliche Darsteller souverän jeden weiblichen Ausdruck und spielen gelungen mit dem Über- und Untertreiben der Darstellung, wenn der Text das Publikum mitunter direkt anspielt, es dann aber über weite Strecken als unsichtbaren Voyeur am Geschehen teilhaben lässt – oder wenn die drei Figuren sich selbst gegenseitig Theater vorspielen.

Allein durch den Blick ins Amt wird aus vorgelesenen Formularen, belauschten Telefongesprächen und den Debatten der drei Damen nach und nach das ganze grausame Spektrum familiären Leidens sichtbar, ohne dass sich die Handlung in Gewalt- und Ekel-Exzessen festfahren würde – was beweist, wie klug Felicia Zeller daran tat, für ihren Blick auf das Kinderelend gerade die Verwaltungsperspektive zu wählen.

Zwischen diesen intensiven Momenten schaft Regisseur Walburg Gelegenheit zum Atemholen und manchem befreienden Gelächter: Da ziehen die Damen vom Amt mit plüschtier-bestücktem Patronengurt in Rambo-Manier in die Kindswohl-Kampfzone. Ein Zementmischer speit mit quälender Langsamkeit geschundene Puppen aus. Oder die Jugendamtssozialarbeiterinnen tragen auf dem schwankenden Boden ihrer rollenden Schreibtische ihre Konflikte in einer großen Karambolage aus.

Neben allen Betrachtungen des Kinderünglücks ist Zellers Text auch eine brilliante Beobachtung, welche zerstörerischen Mechanismen eine pausenlose Überforderung in einem abgeschlossenen Arbeitsbiotop in Gang setzt: Verdrängung, Verzweiflung, Apathie, planlose Hektik, Ausgrenzung, Flucht Selbstzerstörung oder Aggression im Kollegium – in der Amtstsube werden „Mobbing“ und „Burn-Out“ drastisch und schlüssig vorgeführt.

So ist zu begreifen, dass die Jugendpfleger eben keine Übermenschen sind, sondern irgendwann an die gleichen menschlichen Grenzen stoßen wie ihre Klientel. Als Ungleich-Gleiche aufeinander gehetzt, mündet die gut gemeinte Hilfestellung schließlich in den offenen Kampf zwischen Helfern und Geholfenen: Eltern, die mit dem regelmäßigen Windel-Wechsel überfordert schienen, bringen plötzlich genügend Initiative auf, um Anwälte oder die Medien in Marsch zu setzen. Und lassen die Damen vom Amt scheinbar mit Wonne ins offene Messer laufen. Kein Wunder also, dass am Ende ein Schlachtfeld voller zerschundener Verlierer zurück bleibt.

Fazit: Große Themen, großes Theater – und auch noch große Unterhaltung. Eine großartige Dreiecksbeziehung, zu der Autorin, Regie und Darsteller gleichermaßen beitragen.

Leise knistert der Schaum

Veranstaltung am 28.9.2008 / Schwabinger Schaumschläger Show, Vereinsheim, München

München, Ende September: Das Oktoberfest tobt. Die Zelte sind voll. Die Lesebühnen leer.

Verena Richter und ich werden der familiären Runde vom Chef-Schaumschläger Jaromir Konecny deshalb gleich als preiswerte Nahbereichsautoren mit niedrigen Spesensätzen angekündigt.

Michael Sailer liest anschließend einen leisen Krawall, Moses Wolf wird als dirndl-angetörnter Bierzeltzecher laut und muss dann feststellen, dass die mit Mühe bestiegene „Achterbahn“ offenbar doch Teil des MVV ist. Jaromir singt vom Föhn. Ich fluche über Automaten. Und Verena fasst mit den „Gedanken einer Erbse im Gehörgang eines Mannes, der sich aus Langeweile Hülsenfrüchte in die Ohren steckt“ in wunderbarer Weise kurz die Erkenntnistheorie von Descartes bis zum Neopragmatismus zusammen.

Von den wenigen Gästen bleiben viele noch zum Plaudern. Prima.

Poesie unter der Pickelhaube

Veranstaltungen am 24. und 26. 9. 2008 / Maxi Schafroth: Faszination Allgäu, Heppel & Ettlich, München

Pickelhaube

Wie, bitteschön, kann ein bäuerlicher Kleinbetrieb im Allgäu wohl von der ach so hippen Delfin-Therapie profitieren? Ganz einfach – die moderne Trend-Quacksalberei muss nur ein wenig an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden – so wie es Maxi Schafroth als dankbarer Innovationslandwirt seinen „Geldgebern“ im Publikum erklärt: Da wird anstelle des Pools einfach eine Güllegrube mit Wasser aufgefüllt, dann mit dem Trecker gutsituierter Bogenhausener Nachwuchs ans Wasser kutschiert und schliesslich der namensgebenden Meeressäuger einfach durch eine robuste Milchkuh ersetzt – fertig ist eine Allgäuer Erfolgsgeschichte.

Die sprichwörtliche Bauernschläue ist es, der Maxi Schafroth in seinem bunten Allgäu-Abend huldigt, indem er seinen Heimat-Landsprich zwar spöttelnd, aber doch immer liebevoll auf der Kabarett-Bühne präsentiert. Die zahlreich im Publikum vertretenen Echt-Allgäuer scheinen Spott und Liebe auch gleichermaßen zu spüren, denn sie amüsieren sich prächtig und klären im Dialog mit der Bühne die unwissenden Städter mit Inbrunst über die Geheimisse der Region auf. Höhepunkt der sympathischen Selbstironie ist Maxi Schafroths Vater, der vom Sohnemann auf der Bühne als cholerisch fluchendes Rumpelstilzchen verkörpert wird, während der der Echte hinten im Saal sitzt und in der Pause als freundlich beredter Gemütsmensch erlebt werden kann.

Allein diese unaufdringlich stolzen Heimatreflexion macht die „Faszination Allgäu“ zu einem Erlebnis. Aber Maxi Schafroth nähert sich den Biotopen aus Bierzelt und Bauernhof musikalisch und in Begleitung an. Da wäre zunächst Marcus Schalck, der als souveräner Begleiter sämtliche Veitstänze auf der Gitarre untermalt. Richtig pompös wird die Musik dann durch Trompete und Posaune der Trachtenformation „Lehler Lackl“, die auch mit Satzgesang einspringt.

Ein weiteres Ereignis im Allgäuer Kosmos ist Rafael Dwinger in der Rolle des singenden Viehhändlers „Sergej“. Der stolpert als Ukrainischer Allgäu-Immigrant durch das Programm, sagt dabei kaum ein Wort mehr als absolut notwendig – und spricht mit seiner Mimik und Gestik doch Bände. Und dann krabbelt Maxi noch auf allen Vieren mit einer jungen Opernsängerin über die Bühne und singt ein opernentlehntes Milchkuh-Duett.

Irgendwo in diesem furiosen Voralpenpanorama soll ich dann auf Wunsch des Protagonisten meinen Platz finden. Wir probieren es mit verschiedenen Konzepten: Am ersten Abend bekomme ich aus dem Fundus der Schafrothschen Preußen-Trash-Soap eine Pickelhaube ausgeliehen und soll dann den integrationsresistenten Zuagroastn geben, für dessen Eingliederung ins bayerische Bühnenleben die Veranstalter sich mit Fördergeldern schmieren ließen.

Mangels irgendwelcher Erfahrung als Pickelhauben-Träger baue ich in der Stellprobe gleich einen dramatischen Unfall: Mit der Haubenspitze bin ich deutlich höher als die Feuerschutztür des Bühnenaufgangs, was einen heftigen Schlag in meinen Nacken, sehr viel Lärm und einen Blechschaden zur Folge hat.

In der ersten Aufführung komme ich dank unmilitärischer Buckelei heil bis ans Mikrofon, ernte dann aber mit meinen Ausführungen über die Vorzüge, die ein „Deutscherrr Schäferrrhund“ gegenüber über dem Bayerischen Dackel („Leberwurst am Abschleppseil“) hat, einiges Erstaunen. In der zweiten Runde probieren wir es pickellos mit einem Stadt-Land-Konflikt und ich starte in der letzten Reihe, um mich mit meiner agoraphobischen Schmähung der „Händchen haltenden Liebespaare“ durch den (trotz Oktoberfest) restlos ausverkauften Saal bis zu Bühne zu brüllen. Was entgegen der gedichteten Handlung ganz reibungslos gelingt, weil sich das Publikum mit angsterfülltem Blick vor mir teilt.

Wie auch immer: Meine gänzlich allgäu-unerfahrenen Agentinnen im Saal schwärmen anschließend in den höchsten Tönen von den Reizen der idyllischen Natur im Allgemeinen (und von Raphael Dwinger im Speziellen); und auch ich bekomme in nett entspanter Runde an der Bar noch manch freundliches Wort zu hören.

Dann aber holt mich die unidyllische Oktoberfest-Realität wieder ein: Mein Taxifahrer donnert mit starrem Blick und verriegelten Türen am Hauptbahnhof durch die Horden der taxiwinkenden Maßkrug-Zombies und besteht darauf, mich am äußersten Ende meiner stillen Seitenstraße abzusetzen, damit die Wiesn-Wiedergänger nicht in erbrecherischer Absicht sein leeres Fahrzeug stürmen.

Bunter als das Bierzelt: Blickpunkt Spot

Veranstaltung am 22.9.2008 / Blickpunkt Spot, Vereinsheim, München

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Der erste Oktoberfest-Montag – auch der Blickpunkt scheint unter der magnetischen Anziehungskraft zu leiden, die schlecht gefüllte, aber gut abgerechnete Bierkrüge auf die Münchner zu haben scheinen. Aber so finden die Gäste im Vereinsheim einen klaren Komfort-Kontrast zum Bierzelt vor: Ein eigener Stuhl für jeden, Temperaturen unterhalb des Treibhausniveaus, kein Kondenswasserregen von der Decke … und viel bunter als die Bier-Blasmusik-Monokultur ist der Abend auch.

Alles beginnt wie gewohnt: Michael Sailer schildert in einer weiteren Geschichte aus dem „Schwabinger Krawall“ charmant die Poesie des Scheiterns.

Dann aber die erste Überraschung: der „Pinguin“. Den Darsteller habe ich vor der Vorstellung am Tresen noch als unauffällig angepassten älteren Herren kennen gelernt. Auf der Bühne aber gibt er dem Publikum detailliert Anleitung, im drögen Alltagsleben unangepasst aus der Rolle zu Fallen und führt seine wahnwitzigen Alltagsparodien dann auch gleich mit pantomischem Einsatz vor.

Meinen Überraschungshöhepunkt erlebe ich direkt dannach mit Carmela de Feo. Die hatte mir zwar lange schon als „La Signora“ unergründlich von ihrem Plakat im Vereinsheim entgegengeblickt, war so aber von mir unvorsichtiger Weise in die „weltschmerzende Toscana-Liedermacherei“ sortiert worden. Werch ein Illtum!! (E. Jandl) Über die Bühne fegt eine perfekt inszenierte akkordeonbewaffnete Chimäre aus dem Ego von Marilyn Monroe, der erotischen Ausstrahlung meiner Handarbeits-Lehrerin, der Musikalität von Astor Piazzola und dem Dialekt einer Oberhausener Frittenbude. Der in der Summe entstehende musikalisch-pornografische Ruhrpott-Brachialnarzismus ist zu allem Überfluss auch noch intelligent gestrickt, entlarvt ganz nebenbei die pseudo-erotisch überreizte Lieblosigkeit der Medienwelt und führt mit der erregten Stalker-Sehnsucht der Signora auch gleich noch den Zwiespalt der Sucht nach Berühmtheit und Begehrtheit vor.

Eine derbe Überraschung muss auch Stephan Zinner wegstecken, der eigentlich als „Zinner & Band“ angekündigt war. Der ausgebrannter Motor im PKW seines anreisenden Bassisten macht ihn spontan wieder zum Solokünstler mit Schlagzeugbegleitung. Dass er auch in dieser Teilbesetzung sofort das Publikum erobert, beweist ebenso seine darstellerische Leistung wie die humoristische und musikalische Kraft der selbst komponierten Lieder.

Dann bin ich an der Reihe, versuche die elf-nullige Rettungsaktion des amerikanischen Finanzministeriums für die armen, Not leidendenden Investmentbanken zu verstehen, gebe ein Paar Börsentips und lasse schließlich einen Wurm im Liebessturm sterben.

Martin Puntigam spurtet zum Schluss aus der Lach&Schieß herüber und berichtet aus seiner Österreichischen Heimat. wobei er virtuos mit den Grundfarben Ekel, Mitleid und Überraschung jongliert.

Dann noch freundliche Gespräche und ein Bier (als Halbe ausgeschenkt, aber vermutlich fast genau so viel drin wie in einem Maßkrug). Schön war’s.

Neuer Meister für den Kiez

Veranstaltung am 20.9.2008 / Kiezmeisterschaft, München

Die Kiezmeisterschaft an jedem dritten Samstag eines Monats ist mein Slam-Jour-Fixe. Aber gerade deshalb auch mein Angstslam. Denn ich habe hier so ziemlich jede Zeile meiner gesammelten Werke schon einmal vorgetragen. Und Veranstalter Ko Bylanzky wacht eisern über das Verbot von Wiederholungen. Weshalb ich die dritten Samstagnachmittage jedes Monats regelmäßig am Schreibtisch verbringe, um dann mit einem Werk anzutreten, bei dem die Tinte noch feucht – pardon, besser: der Toner noch warm – ist. Diesmal muss ich aus Gründen des Fertigstellungstermins sogar meinen Wochenendeinkauf (Brot, Käse, Milch) mit ins Stragula nehmen – aber egal: ist ja alles für die Dichtkunst.

Slamchef Bylanzky lässt sich diesmal entschuldigen, wird aber mit Dichter Heiner Lange und Life-a-Holic Christian Bumeder (aka Bumillo) durch zwei einschlägig vorbeslammte vertreten. Die beiden machen ihre Sache gut: Energetische Anmoderationen und souveräne Abwicklung der Bewertung verschaffen jedem der zwölf Dichter eine aufmerksame Atmosphäre im zwischendurch (wiesnbedingt) etwas unruhigen Publikum.

Den ersten Höhepunkt des Abends schafft gleich am zweiten Startplatz Sonja Popp. Die junge (vermutete) Schülerin schildert ihre Erlebnisse aus Großmamas „Umerziehungslager“ zur perfekten Haus- und Ehefrau. Originell erzählt und gespickt mit den Hausfrauentips der vorletzten Generation („Siehst Du Kalk auf Fliesen sprießen, gleich mit Essig übergießen“) stellt sie ganz unaufdringlich famililäre Rollen und Abhängigkeiten zur Diskussion. Die Person auf der Bühne – ihre eigene offenbar – passt haargenau zu Rolle und Stil. Perfekt. Schade, dass die Jury am Anfang des Abends offenbar noch nicht ganz in ein konsistentes Bewertungsschema gefunden hat.

Benedikt Halkel zieht im Folgenden mit seiner stillen Poesie die Wertungen nach oben. Muss sich aber gleich Wolfgang Tischer geschlagen geben, der mit dem ganz neuen Genre der Suffix-Poesie antritt. In seiner Chat-Korrespondenz mit der Chinesischen Freundin Ling erklärt er “ … ich habe dich Lieb, Ling“, mutiert dann aber zum “ … dann werde ich wüst, Ling“.

Der Begeisterungs-Gipfel der Jury ist jedoch erst direkt nach der Pause mit Jakob Nacken erreicht. Der dekliniert nachts im Bett aus Anlass seines unter der schlafenden Freundin eingeschlafenen Arms sämtliche großen Fragen der Paarbeziehung durch. Denkt, spricht und agiert dabei so überzeugend authentisch wie es sich für sein Berufsbild aus Theaterpädagogen, Darsteller und Improspieler wohl gehört. Ganz großes Theater, das den restlichen Abend nicht mehr zu toppen ist.

Im Schatten dieses Gipfels tummeln sich anschließend Sebastion Stopfer mit seiner apokalyptischen Deutschland-Science-Fiction, Christoph Kastenbauer mit der stillen, aber doch schonungslosen Betrachtung verfahrener Familienverhältnisse, Manni Eder, André Jahn – und direkt im Anschluss an Jakob auch ich selbst mit meinem Geheimtip, was nach Öl-, IT- und Immo-Krise der nächste Börsen-Hype sein wird: Gedichte (zumindest so lange, bis auch die Sprech-Blase platzt).

Für mich reicht es knapp ins Finale, wo ich als dritter gleich zum Auftakt mit Pantherversteher Rainer Maria M. abrechne. Suffix-Dichter Tischer erklärt dann deutsche Vor- und Städtenamen, ernet aber mehr entsetztes Stöhnen als Begeisterung. Freie Bahn also für Jakob, der mit einer sprachlich schönen und stark vorgetragenen Frühlingsode an das Leben die Begeisterung klar und verdient auf seiner Seite hat. Glückwunsch dem neuem Kiezmeister.

Lausch- und Rauschangriff

Veranstaltung am 19.9.2008 / Poetry Slam „Lauschangriff“, Augsburg

Augsburg = ausverkauft. Diese empirische Gleichung gilt trotz Ferienausklang ein weiteres Mal – und die Verhältnisse an der nur für wenige Minuten wirklich existierenden Abendkasse sind so dramatisch, dass ich um kurz vor knapp noch den mir bekannten Resten der Reservierungsliste hinterher telefoniere, damit auch ganz sicher niemand umsonst weggeschickt wird. Der von hinten bis ganz vorne gefüllte Saal ist ein angenehmer Kontrast zum Ebersberger Kulturtage-Slam, wo das Publikum sich nur als „Randgruppen“ auf den Sofas entlang der weit entfernten Saalwände lümmelte.

Nach dramatischer Anmoderation von MC Horst Thieme macht Nils Rusche den gelosten Auftakt mit einer intelligent gestrickten und schön gereimtem Verschwörungsgeschichte: Die Tauben, vorgebliche Friedensstifter, metzeln sich in Wahrheit schon seit der Arche Noah blutrünstig durch die Weltgeschichte. Im Anschluss ein Augsburger Weltschmerzmelker, der mich nicht wirklich mitreißen kann. Vermutlich auch deshalb, weil ich als geladener Gast direkt nach ihm meinem Startplatz entgegenfiebere.

Der Lauschangriff ist einer der epischen Zehn-Minuten-Slams – und davon gelockt krame ich meine Selbstbeichte als (offenbar doch nicht endgültig) geheilter Poesieabhängiger aus dem Gedächtnis. Nach dem Flop der Drei-Minuten-Rasantversion beim WDR-Poetry-Slam kommt die Acht-Minuten-Variante offenbar gut an – und macht mit reichlich Gelegenheit zur Exzentrik auch als Vortragender viel mehr Spaß. Albrecht Rau verliest anschließend noch eine große Portion Trashlyrik – dann bekomme ich genug Applauslärm für’s Finale.

Ein besonderes Phänomen ist nach der Pause Matylda. Die hält ihre dunklen und destruktiven Gedanken nicht verborgen – ich erlebe sie aber als die erste Autorin dieser Art, der dazu eine darstellerische Distanz und mitunter sogar Selbstironie gelingt. Und die damit ihre eigene Zerissenheit auch für außen stehende erahnbar werden lässt. Darüber hinaus verleiht sie mit den „Zerschmetterlingen“ selbst der Zerstörung eine sprachliche Schönheit. Ihr folgt im Kontrast die nächste Autorin mit einem Fuck-George-Doublejuh-Text, dessen ungebrochener Schwall aus Hass am Publikum ganz offenbar ohne Wirkung abperlt.

Michael Jakob– zweiter geladener Gast – fährt als dritter der Runde eine Doppelstrategie: Erst mit „Papier“ etwas neues ausprobieren, anschließend mit seiner Fragenliste einen kampferprobten Knaller hinterher – die zehn Minuten Redezeit machen es möglich. Cornelia Koepsell kommt da mit durchaus interessanten und klugen, aber (am Ende auch für die zehn Minuten) zu weit scheifenden Geschichten nicht gegen an.

So stehen sich zum Finale die beiden Auswärtsgäste gegenüber. Jetzt muss es mit jeweils nur noch drei Minuten ganz schnell gehen. Ich werde rückfällig und reime „Den Butt“ zusammen, Michael initiiert mit dem „Manifest für die Nacktheit“ auf der Bühne eine Altkleider-Sammlung. Der Manifest-Applaus ist frenetisch, der Butt-Beifall in den Ohren des MC Horst aber noch ein Hauch frenetischer. Also darf ich für alle den Schampus entkorken.

Anschließend bin ich so belauscht und berauscht, dass ich um Haaresbreite den Absprung zum letzten Zug nach München verpasse. Meine zunächst fast filmreife Flucht mit dem Taxi verliert dann aber auf dem Bahnhof aufgrund einer zehnminütigen Zugverspätung doch erheblich an Dynamik …

Last Exit Ebersberg

Veranstaltung am 17.9.2008 / Kulturtage Ebersberg

„Nur fünf Minuten vom S-Bahnhof.“ Mit diesem Argument hatte Ditar Kalaja für sein Gastspiel des Poetry Slams „Freispruch“ im Rahmen der Kulturtage Ebersberg geworben. Ich kaufe also nach der Arbeit für fünf Euro einen Ergänzungsfahrschein zu meiner Monatskarte und bin um fünf nach sieben an besagter Bahnstation, wo das Gleis der Münchner S-Bahn in einem robusten Prellbock endet.

Mit der Fünferbande Manni Eder, Rüdi Lössl, Frank Sohler und einem mir bis heute unbekannten Poeten geht es von dort in den scheunenartigen Veranstaltungsraum. Dort komme ich aber nur physisch an. Was vermutlich daran liegt, dass der Mittwochabend mein fünfter nachtaktiver Tag in Folge ist und es am Abend zuvor bei Sven Kemmlers Premierenfeier doch ein wenig spät wurde (ich war gegen fünf wieder zuhause).

Ich komme dann auch gleich als allererster an die Reihe. Das Publikum (fünfzig Personen auf fünfhundert Quadratmetern) lümmelt sich auf den entlang der Außenwände aufgestellten Sofas und befindet sich somit knapp innerhalb der Hörweite. Nach mir gelingt es Michael Jakob mit einer aktualisierten „Fragenliste“ und „Tofu“ auch das entferntere Publikum zu erreichen. Rudi Lössl und Benni Hakel aka Ernst Froh machen die Viererrunde voll. Meine gefühlte Publikumswertung ist Platz fünf.

Fünf Minuten später bin ich wieder am Bahnhof, fünfzig weitere Minuten dannach sinke ich in einen komaartigen Tiefschlaf. Zum Schluss eine aufrichtige Entschuldigung an alle, die unter meiner Erschöpfung zu leiden hatten und nicht angemessen unterhalten, gewürdigt oder verabschiedet wurden.

Endlich: Sven Kemmlers große Beglückung

Veranstaltung am 16.9.2008 / Lach- und Schieß-Gesellschaft

Sven Kemmler: Endlich

… irgendwann muss es doch endlich gelingen, glücklich zu sein?! Sven Kemmler stellt sich in seinem zweiten Kabarett-Soloprogramm „Endlich“ einer ganz großen Aufgabe: Er will beweisen, dass das Glück erlernbar ist. Die freundlich begrüßten „Seminarteilnehmer“ in der Lach&Schieß bekommen zu diesem Zweck auch gleich einen minutiös festgelegten Flipchart-Fahrplan präsentiert.

Den soll zunächst der kitteltragende „Experte“ abarbeiten, der mit forscher Selbstgewissheit antritt, sich dann aber schnell immer hoffnungsloser zwischen Hausfrauenweisheiten und der Quantenmechanik verheddert. Den Kontrast dazu bildet die ins Diktiergerät reflektierte Lebensbeichte eines Auftragskillers, der bei aller abstoßender Zynik doch Sympathie weckt, weil zumindest er offenbar etwas von dem versteht, was er tut.

Als Reaktion auf eine verpatzte telefonische Menübestellung springt dann noch ein säbelschwingender Sushi-Samurai auf die Bühne. Und demontiert furios die ach so populäre Glücksuche in der verklärten (weil nicht verstandenen) Exotik, indem er mit außuferndem Pathos einen Heldenmythos zelebriert, der sich bei genauem Hinhören als die Geschichte vom Räuber Hotzenplotz herausstellt.

Im sich virtuos immer weiter steigernden Tumult ist doch immer klarer zu erkennen, dass Sven Kemmler den neurotische Empathie-Eunuchen, den herzlosen Lebensbeender und den heldenmütigen Kasperle-Verklärer in ihrem verzweifelten Scheitern klug auf ein ein großes Ziel hin steuert: Alle drei hauen bei ihren Versuchen, das Glück in Worten und Bildern fest zu nageln so oft von allen Seiten virtuos daneben, dass inmitten des zertrampelten Terrains schließlich eine Silhouette des Glücks stehen bleibt, die jeder Betrachter mit seinen ganz eigenen Vorstellungen füllen kann.

Von der Bühne spühen derweil unentwegt Wortwitz und Ideen in solchem Tempo, dass mitunter kaum noch Platz für das Gelächter bleibt. Und zwischendrinn sogar eine zarte Poesie, in der endlich eben auch als Vergänglichkeit begreifbar wird.

Neben inhaltlicher Stärke hat Endlich auch dramatische Qualität: Die Figuren sind interessant gestaltet, differenziert dargestellt, entwickeln sich und werden im Verlauf des Abends immer stärker miteinander verwoben. Bühnenbild, Licht, Musik und Requisiten sind sparsam, aber bewusst und wirkungsvoll eingesetzt.

Das alles ist sicher auch ein Verdienst von Eva-Katrin Herrmann (bitte nicht mit der fast namensgleichen dogmatischen Herd-Hüterin zu verwechseln), die nach langer Karriere als Schauspielerin in diesem Programm ihr Regie-Debut gibt.

Gemeinsam gelingt es Kemmler und Hermann also, das große Thema Glück zwischen brachialen Figuren doch ganz zärtlich und poetisch in die Zange zu nehmen. Das ist ebenso klug wie komisch – und macht ganz augenscheinlich das Publikum weit über das Ende der Vorstellung hinaus glücklich. Quod erat demonstrandum.