Kulturgenuss ganz ab vom Schuss: Kult-Comedy-Nacht in Schnaittach

Schon seit Hänsel und Gretel sind abgelegene Örtlichkeiten die bevorzugten Ziele der Mythos- und Legendenbildung. So geht auch unter den Bayerischen Kleinkünstlern die Legende um, dass es tief, tief im Wald hinter Nürnberg ein sagenhaftes Kabarett-Theater gäbe, das seine Künstler nicht nur mit größtem und fröhlichstem Publikum, sondern auch mit leckerstem Speis und Trank und schönster Atmosphäre beglücke, und deshalb überall nur das „Tausendschön“ genannt werde. Alles in allem also so eine art Knusperhäuschen für rampensäuisch-verfressene Bühnengestalten.

Da obendrein noch die Homepage dieser Bühne von gängigen Webfiltern als „Category: Nudity and Risque“ blockiert wird, muss ich dieser Sache mal persönlich nachgehen – und so lasse ich mich von Humortycoon Matthias Matuschik zur Kult-Comedy-Nacht nach Schnaittach in die sächsische Schweiz einladen.

Entgegen anderslautender Gerüchte besitzt dieser abgelegene Ort einen Bahnhof, dessen nigelnagelneue Bahnsteigpflasterung übrigens in scharfem Kontrast zum akut einsturzgefährdeten Bahnhofsbau steht. Und sympatische Einheimische: Der erste, den ich auf der Suche nach dem Theater anspreche, führt mich durch den ganzen Ort (gut: soo weit ist es nicht …) bis auf die Zielgerade zum „Tausendschön“.

Dort treffe ich auf Christoph Knüsel, Kurt Knabenschuh, Daniel Helfrich und Alexander Wolfrum, die es wohl auch alle einmal wissen wollen. Und tatsächlich: Der Saal ist groß (und voll), das Essen (das die Künstler in voller epische Breite vor- und nachkosten dürfen) vorzüglich und die ausgelassene Stimmung wirkt weit über die Vorstellung hinaus nach.

Dann aber kommt es noch idyllischer: Weil Schnaittach trotz Ab-vom-Schuss-Lage von Messetouristen aus Nürnberg überrant ist, hat uns der Veranstalter in Osternohe einquartiert, einem Epizentrum der Abgeschiedenheit, das wir gegen drei Uhr morgens nach einer stark erratisch geprägten Überland-Taxifahrt erreichen. Dem voraus geht ein stundenlanges Warten auf ebendieses Taxi, das der Veranstalter nutz, um seine Gäste mit den unzähligen Biersorten der Wolfshöher Brauerei zu betanken.

Nach einer traumlosen Nacht stehe ich also am sonnigen Sonntagmorgen in einer Örtlichkeit, deren Attraktionen auf der Pensions-Website wie folgt beworben werden.

Unser Ort bietet: Öffentliche Telefonzelle – Evang. Kirche – Skiliftanlage – gut markierte Wanderwege.

In Erinnerung an die Taxi-Erfahrungen entschließe ich mich zur Nutzung der Wanderweg-Infrastruktur und genieße eine Heimreise im Drittelmix: Eine Stunde Fußmarsch durch die Fränkische Schweiz zurück nach Schnaittach (dort Kurzbesuch auf dem SPD-Ortsfest zu Ehren der neuen Bahnsteigpflasterung), eine weitere Stunde Regionalbahn nach Nürnberg und dann eine rasante dritte Stunde im ICE nach München.

Luxus für Lyrik: Slam Poetry auf der „Experimentellen 16“

Genau so sah schon immer mein Poetiker-Traum aus: In eine der schönsten Gegenden Deutschlands reisen, mit der Regionalbahn eine Stunde lang den Bodensee entlang tuckern und dann am Ziel gleich vor dem Bahnhof von einem Plakat mit der eigenen Visage drauf begrüßt werden. 500 Meter entfernt hat der Veranstalter ein schönes Hotelzimmer reserviert (und nicht nur das: er hat es auch bezahlt!). Nach einem guten Abendessen geht es mit Chauffeur von dort aus in Begleitung einer bewährten Kollegin und einem –gen (Katinka Buddenkotte und Stefan Abermann) auf ein historisches Schloss, wo im Schlosshof zwischen Palmen und Skulpturen schon ein Mikrofon nebst einem hundertköpfigen Publikum in der Abendsonne warten.

Die Triobesetzung auf der Bühne erlaubt während des wolkenlosen Sonnenuntergangs einen komfortablen 1:2-Rhythmus aus Vortrag und Vorglühen, das Publikum ist begeistert bei der Sache, ein zweiköpfiges Pressekommando knipst und schreibt mit und nach einem rauschenden Schlussapplaus spendiert der Schlossherr im Mondschein noch drei Quadratmeter Pizza und einen Hektoliter Rotwein.

Das alles habe ich natürlich zunächst nicht für wirklich halten können. Aber als ich nach dem Aufwachen im weichen Hotelbett am Frühstücksbuffet aber tatsächlich auch noch die Traumgage vom Vorabend wieder in meiner Tasche vorfand, musste ich doch endlich begreifen, dass mir alle oben geschilderten Beglückungen bei meinem Auftritt auf Schloss Randegg tatsächlich genau so zugestoßen waren.

Also, liebe Veranstalter: Durch die Erfahrung anstrengungslosen Wohlstands und Wohlbefindens bin ich ab sofort total verzogen und verdorben. Nachtquartiere in Form von Backstage-Sofas, Kleinkunstbühnen als verkappte Raucherkneipen und halbleere Säle mit desinteressierten Gamma-Trinkern halte ich folglich fortan nicht mehr für gottgegeben.

Bei Fragen zu den Details der artgerechten Künstlerbetreuung wenden Sie sich bitte an:
Förderkreis für Kultur und Heimatgeschichte e.V., Gottmadingen und dessen fürsorliche und lebenslustige Vorstände und Schlossherrn Roland Huber, Bernd Gassner und Titus Koch. Und richten Sie dort bitte auch gleich meinen herzlichen Dank aus!

P.S.: Das hier hat der Südkurier geschrieben.

P.P.S.: Zusätzlich zur Schloss-Lesung gab es noch eine Open-Air-Matinee im benachbarten Thayingen / Schweiz. Dort ist aus dem alten Dorffriedhof ein sehr lebendiges Areal geworden: Um ein kleines Amphitheater herum finden sich Schaukeln und Rutschbahn und direkt am Bühnenrand steht ein gemauerter Grill.

Roessl Revisited: Die Wiederauferstehung des „Weißen Rößl“ im Lustspielhaus

Das Weiße Rößl ist tot! Das schien zuletzt einhellige Meinung der deutschen Theater zu sein. Nach jahrzehntelangem Zuritt mit schwulstigen Heimatklischees, Hubschrauberknattern und Peter-Alexander-Gejodel sowie der Helmut-Kohl-Verklärung des Wolfgangsees mitsamt Christoph Schlingensiefs Badeurlaub für Arbeitslose schien das 1930 uraufgeführte Singspiel vom Salzkammergut, dem schönen Salzkammergut bestenfalls noch für Trash- und Zombie-Reiterferien zu taugen.

Erstaunlich also, dass Lustspielhaus-Regisseur Christian Lex sich für die Sommerspielzeit das Rößl vornimmt. Und noch erstaunlicher: Er nimmt das Werk ernst. Und eben deshalb nicht wörtlich. So gelingt es ihm, die Geschichte vom großem See, dem kleinem Wirtshaus, der ewigen Sehnsucht und den plötzlichen drei Hochzeiten auf gute zwei Stunden herunter zu destillieren. Und auf nur sieben Darsteller.

Aber was für welche: Für die Paraderollen hat Lex gestandene Kabarettisten gecastet, von denen jede und jeder ein Urgewächs seines jeweiligen Rössl-Biotops ist. Los geht’s mit Severin Groebner, in seinen Soloabenden Prototyp des Österreichers, der als Zahlkellner Leopold von Anfang an so raumgreifend gelassene Trägheit ausstrahlt, dass man für die trotz Premierengedränge fürsorgliche Aufmerksamkeit des passend gedirndelten Lustspielhaus-Personals an diesem Abend besonders Dankbar ist.

Ziel seiner gemächlichen, aber doch inbrünstigen Sehnsucht ist Luise Kinseher als Wirtin Josepha, in deren robuster Geschäftigkeit stets so viel großäugige Hilflosigkeit sichtbar wird, dass man Leopolds Avancen beinahe selbst mit Eifersucht begegnet.

Thomas Wenke – zuletzt Mitglied im Ensemble der Lach- und Schießgesellschaft – ist als Dr. Siedler ein überzeugend schillernder Lebemann, hat aber seine allergrößten Momente als schwerhöriger Kaiser, der im Rollator über die Bühne quietscht und die trivialen Lebensweisheiten des Singspiels so zerbrechlich austeilt, dass sie schon wieder anrühren können.

Für Leben und Lautstärke sorgt derweil Norbert Steinke. Er gibt den Berliner Totalquerulanten Giesecke mit einer Vehemenz, die auch im grantler-abgestumpften Bayern noch durchdringt. Josepha Sophia Sem reizt und neckt mit doppelbödiger Unschuld als sein Töchterchen Ottlile. Und Regisseur Christian Lex schlüpft schließlich selbst noch in die Rolle des schönen Sigismund, dessen kleine Schönheitsfehler aber bald die amüsante Frage stellen, ob er vom schüchternen Klärchen tatsächlich abgöttisch bewundert oder von ihr abgeklärt um den Finger gewickelt wird.

Zu Tempo und Unterhaltung trägt schließlich in ganz besonderer Weise Constanze Lindner bei, die in ihren beiden Rollen in geradezu chaplinesker Manier mit Armen, Beinen und Gesicht viel mehr redet als mit Ihrem forsch fordernden (Kathie) oder zuckersüß lispelndem (Klärchen) Mundwerk.

Eine im Vergleich zum Schauspiel noch dramatischere Rosskur wird im Lustspielhaus der Musik zuteil: Vom einst gigantischen Orchester (in der jüngst wiederentdeckten Originalpartitur kommen bis zu 250 Musiker vor) bleiben in der Bearbeitung von Stefan Dettl (LaBrassBanda) und Hans Kröll grade mal drei Blechbläser übrig. Die aber als Trio dennoch jede Nuance der Musik treffen und sich dabei weit aus dem volksmusikalischen bis in den Jazz und den Swing hinauswagen.

So ist dank dem konsequent umgesetzten Arbeitsmotto „wenig Aufwand, viele Ideen“ alles zu sehen und zu hören, was ein lebendiges Rössl ausmacht: Die Ohrwurm-Musik aller Rössl-Schlager ebenso wie das Gewitter überm Wolfgangsee, sämtliche amourösen Verwicklungen, den Kaiser selbst und in der Summe einen ganzen Abend lang kurzweilig intelligente Unterhaltung.

Allein mit dem Ton hatte die Premiere mitunter noch zu kämpfen. Die Mischung der auch unverstärkt sehr präsenten Bläser mit dem Gesang war gerade vorn im Saal mitunter unausgewogen. Vermutlich vor allem ein technisches Problem, denn hin und wieder blieben einzelne Darsteller ganz ohne Verstärkung.

Dass es nach der Pause im Ensemble ein Wenig menschelte und die Darsteller spontan liegengebliebene Requisiten verräumten, miteinander über den richtigen Text debattierten oder auch einen zweiten Anlauf in eine Musiknummer einforderten, das konnte am Premierenabend die Begeisterung des Publikums nur noch mehr anfachen. So gab es einen klanglich mehr als befriedigenden Schlussapplaus, in dessen nicht enden wollendem Getöse Constanze Lindner mit einer feinen Nuance zum Publikumsliebling gekürt wurde.

Womit also bewiesen wäre: Das Rößl lebt, es ist sogar quietschlebendig. Es muss nur frisch aufgezäumt und mit Hingabe, aber ohne Pomp und Pathos vorgeführt werden. Weitere Ausritte gibt es bis zum 14.8.2010 jeweils dienstags bis samstags. Ein Besuch wird empfohlen.